Über Dr. Stefan Flesch

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Kirchenaustrittszahlen im historischen Vergleich

In den bereits vorgestellten statistischen Unterlagen des Konsistoriums findet sich auch eine Grafik zu den Kirchenaustritten im Gebiet der Rheinischen Kirche 1909-1942. Die niedrigen Ziffern bis 1914 spiegeln die rechtlichen und gesellschaftlichen Restriktionen wider, mit denen Austrittswillige im Kaiserreich konfrontiert waren. Mit dem Beginn der Weimarer Republik und dem Ende der Staatskirche kam es 1920 zu einem sprunghaften Anstieg der gewissermaßen aufgestauten Austritte. Nach der Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse seit 1924 verlief der Trend der Kirchenaustritte unter starken Schwankungen tendenziell nach oben.

Statistik über die Kirchenaustritte im Gebiet der Rheinischen Kirche zwischen 1908 und 1942 Bestand: 1OB 002 (Konsistorium), Nr. 2741

Auffällig ist der scharfe Rückgang auf nur noch 4.000 Austritte im Jahr 1933. Hintergrund ist das zumindest anfänglich von der NSDAP vermeintlich propagierte „positive Christentum“. Mit der Verfestigung des totalitären nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs im Alltag traten in den Folgejahren, z. T. auch aus opportunistischen Gründen für den beruflichen Aufstieg in Partei und Staat, immer mehr Menschen aus den beiden großen Kirchen aus. 1937 vollzogen diesen Schritt allein in der rheinischen Provinzialkirche 42.000 Evangelische. Nach Kriegsausbruch fielen die Zahlen auf das Niveau zur Zeit der Weimarer Republik zurück.

Die Zahl von 1937 wurde erst 2022 wieder übertroffen, als in der nunmehrigen EKiR 44.551 Austritte zu verzeichnen waren. Dies geschah auf der Grundlage von 2,2 Millionen Gemeindegliedern, was mit den in der Volkszählung 1933 für das gleiche Kirchengebiet ermittelten  2,16 Millionen fast identisch ist. Hier hat sich nach drei Generationen demografisch gewissermaßen ein Kreis geschlossen: Durch die Zuwanderung an evangelischen Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und die starken Geburtsjahrgänge der Babyboomer hatte die Rheinische Kirche 1970 mit knapp 4 Millionen Gemeindegliedern ihren zwischenzeitlichen Höchststand erreicht.

300 Jahre „Blutbrief“: Vortrag über Gerhard Tersteegens Verschreibung an Jesus vom Gründonnerstag 1724

„Meinem Jesu! Ich verschreibe mich Dir, meinem einigen Heÿlande und Bräutigam Christo Jesu, zu Deinem völligen und ewigen Eigenthum…“ So beginnt ein Text des reformierten Liederdichters Gerhard Tersteegen, den dieser am Gründonnerstag des Jahres 1724 verfasst hat. Das Besondere: Als Tinte verwendete Tersteegen sein eigenes Blut.
Über dieses bemerkenswerte Dokument pietistisch-erwecklicher Frömmigkeit hatten wir im Blog bereits wiederholt berichtet.

Anlässlich des runden Jubiläums soll jetzt am Donnerstag bei einem Vortrag in der Siegerländischen Kirchengemeinde Freudenberg an den Blutbrief erinnert werden (Info hier > https://www.kirche-freudenberg.de/eventcalendar?action=view_event&event_id=13670). Im Anschluss wird in der nahegelegenen Ev. Kirche um 19 Uhr ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert, bei dem Lieder Tersteegens gesungen werden. Als Vortragender konnte der Historiker Dr. Johannes Burkardt gewonnen werden, einer der profiliertesten Tersteegen-Forscher der Gegenwart. Der aus Bad Berleburg stammende Burkardt ist Direktor des NRW-Landesarchivs in Detmold und hat im vergangenen Jahr eine umfängliche Spezialstudie zur Übersetzungstätigkeit Tersteegens veröffentlicht. Der Eintritt zum Vortrag ist kostenlos.

Ein relativer Befund: Die „Überalterung des rheinischen Pfarrerstandes“

So ist eine statistische Übersicht aus dem Jahr 1946 betitelt, die alle 731 damaligen Gemeindepfarrer der rheinischen Provinzialkirche nach ihrem Lebensalter aufschlüsselt.

„Überalterung des rheinischen Pfarrerstandes“ im Diagramm dargestellt. Stand: 1.09.1946. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 11

Auffällig sind dabei die überproportional stark vertretenen Geburtsjahrgänge 1901 und 1909. Insgesamt errechnet sich so ein Durchschnittsalter von 47,5 Jahren. Damals galt für Pfarrer noch die Regelaltersgrenze von 70 Jahren, die erst 1980 analog zu den beamtenrechtlichen Vorgaben auf 65 Jahre abgesenkt wurde. Auch zuvor konnten Pfarrer aber ab dem 65. Lebensjahr auf eigenen Antrag in den Ruhestand gehen.

Es liegt nahe, den damaligen Befund einer kritischen „Überalterung“ einfach mal unkommentiert mit der heutigen Altersstruktur der rheinischen Pfarrerinnen und Pfarrer in der EKiR zu vergleichen: Zum Stichtag 1.10.2023 waren im Gemeindedienst 1072 Pfarrstellen besetzt. Die Amtsinhaber sind im Durchschnitt 56 Jahre alt. Hinzu kommen 614 Funktionspfarrstellen etwa für Krankenhausseelsorge, Evangelischen Religionsunterricht oder JVA-Seelsorge, die 1946 noch deutlich geringer vertreten waren. Hier liegt der Altersdurchschnitt bei 57 Jahren.

Kriegsfolgenstatistiken der Rheinischen Kirche 1946

In einer Mappe unseres Konsistoriumsbestandes befinden sich statistische Übersichten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46. In einer kleinen Serie von Beiträgen sollen hier im Blog einige der damaligen Themen vorgestellt werden. Den Start markieren drei zeichnerische Kompositionen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges für die damalige rheinische Provinzialkirche.

Grafische Darstellung des Kriegseinsatzes rheinischer Geistlicher. Stand: 1.01.1945. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 3

Bei dieser Übersicht wird der hohe Mobilisierungsgrad deutlich, dem vor allem die jüngeren evangelischen Theologen unterworfen waren. Nahezu alle ordinierten Hilfsprediger und noch nicht ordinierte Vikare wurden einberufen. Von diesen beiden Gruppen, die entweder an vorderster Front oder im frontnahen Sanitätsbereich eingesetzt wurden, ist jeder Vierte gefallen (79 von 327). Von den aktiven Gemeindepfarrern, die altersbedingt „nur“ zu 45 % mobilisiert wurden, sind weitere 37 Männer dem Krieg zum Opfer gefallen, teilweise durch Luftangriffe auf ihre Kirchengemeinden.

In piam memoriam. Grafische Darstellung gefallener rheinischer Geistlicher im 2. Weltkrieg. Stand vom 1.09.1946. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 4

Ein weiteres Blatt widmet sich den daraus resultierenden Schäden an Gebäuden der Inneren Mission in der Nordrheinprovinz. Unter dieser ist der Landesteil Rheinland des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zu verstehen. Von den 190 Heimen und Einrichtungen wurden demnach fast zwei Drittel zerstört oder schwer beschädigt. Zeichnungen veranschaulichen dabei den unterschiedlichen Zerstörungsgrad.

Kriegsschäden an Gebäuden der Inneren Mission in der Nordrheinprovinz. Stand: 1.09.1946, grafisch illustiriert. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 5

Das Museum der Rheinischen Provinzialkirche: Ein gescheitertes Kulturprojekt in der Weimarer Republik

„Im Übrigen war es eine große Freude für mich, nach all dem hypermodernen Kitsch, den man jetzt allenthalben zu sehen bekommt, in diesen alten Formen wieder einmal gesunde Schönheit beobachten zu können. Ich möchte hoffen, dass das Museum Wirklichkeit wird.“ Arno Eugen Fritsche, der Leiter des provinzialkirchlichen Bauamtes, lässt seinen Ressentiments gegenüber Bauhaus und Neuer Sachlichkeit freien Lauf, als er im Oktober 1927 den Kapitelsaal des ehemaligen Kartäuserklosters in Köln besichtigt.

Diesen sollte er im Auftrag des rheinischen Präses Walther Wolff auf seine Eignung für ein geplantes provinzialkirchliches Museum überprüfen. Hintergrund dieses Vorhabens war die große „Jahrtausend-Ausstellung der Rheinlande“, die im Sommer 1925 in den Kölner Messehallen stattgefunden hatte.

Informationsbroschüre zu „Jahrtausendausstellung der Rheinlande, Köln 1925“, aus Bestand: AEKR 5WV 051 (Diakonisches Werk – Bestand Ohl); Nr. 1049

Raum 12 war dabei der Evangelischen Kirche gewidmet, die Räume 13-14 präsentierten die verschiedenen Arbeitsfelder der Inneren Mission. In einem Fotoalbum des damaligen rheinischen Generalsuperintendenten Karl Klingemann sind Aufnahmen der Ausstellungsräume überliefert:

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Wege und Irrwege einer evangelischen Bibliothek

„Inter arma silent musae,“ im Kriege schweigen die Künste. Diese Sentenz trifft leider allzu oft zu. Umso mutiger war 1643, mitten im Dreißigjährigen Krieg, der Beschluss der Bergischen Provinzialsynode, eine eigene Bibliothek in Düsseldorf einzurichten. Ihr Bestand rekrutierte sich aus Schenkungen der Prediger, wohlhabender Bürger sowie ausscheidender Mitglieder des Presbyteriums. Im Archiv erhalten ist das kleine Quartbändchen des Zugangsregisters. So wohlausgestattet wie die hier abgebildete Universitätsbibliothek von Leiden um das Jahr 1600 dürfen wir uns das Düsseldorfer Bücherdepot nicht vorstellen. Die auf dem Kupferstich dokumentierte Ankettung der Bücher war damals üblich und der menschlichen Natur geschuldet.

Kupferstich aus: „Alma et Illustries Academia Leidensis“, aus Bestand: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Archivbiliothek, Sig. Goe 945

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geriet die Düsseldorfer Bibliothek gänzlich in Vergessenheit und wurde erst 1849 auf dem Speicher des Küsterhauses zufällig wiederentdeckt. Bis 1890 erfolgten weitere Buchspenden und Ankäufe. 1933 wurde der Bestand an die damalige Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf übergeben. In der heutigen ULB werden die ca. 2.600 Bände als eigener historischer Bestand „Bibliothek der Evangelischen Gemeinde zu Düsseldorf“ mit der Signatur EVG verwahrt. Immerhin 156 z. T. mehrbändige Titel stammen dabei aus dem 16. Jahrhundert, 250 Titel aus dem 17. Jahrhundert. Betrachten wir einige Titel der Sammlung genauer.

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Pfarrer Harney und die Inflation

Kommentar zur Entwicklung der Inflation der letzten Monate im Dezember 1923. Quelle: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, ZK 065, Düsseldorfer Sonntagsblatt. Kirchlicher Anzeiger der evangelischen Gemeinden zu Düsseldorf, Ausgabe 51/1923 vom 16. Dezember, S. 4

Heute vor 100 Jahren sinniert Pfarrer Rudolf Harney (1880-1965) in der „Zeitschau“ des von ihm redigierten Düsseldorfer Sonntagsblattes über ganz profane Alltagserfahrungen nach. Er hat erlebt, wie nach dem harten Währungsschnitt vom 15. November 1923 wieder Lebensmittel und Waren in die Auslagen zurückkehren. Harney kann es nicht wissen, aber er wird in seinem Leben diese Erfahrung wiederholen: Ein Vierteljahrhundert später ist die deutsche Reichsmark wiederum wertlos geworden und mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 kehren quasi über Nacht lange nur im Schwarzhandel erhältliche Waren in die Geschäfte zurück.

Harney, Rudolf; Pfarrer, Superintendent Kirchenkreis Düsseldorf, Mitglied der Leitung der Ev. Kirche der Rheinprovinz 1945-1948; Archiv der Ev. Johannes-Kirchengemeinde Düsseldorf; AV 29

Das ökonomische Verständnis gerade des von der Hyperinflation fast enteigneten deutschen Mittelstandes darf nicht überschätzt werden und Pfarrer Harney ist hier ein zeittypisches Beispiel. Dunkel raunt er von „spekulativen Börsenmanövern“, die die Reichsmark zusätzlich entwertet hätten. Die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, vorrangig die bis 1918 über Anleihen finanzierten immensen Kriegskosten sowie der letztlich über die Druckerpresse finanzierte sogenannte Ruhrkampf 1923, blendet Harney bewusst oder unbewusst aus:

Zeitschau.

Wir leben in der Zeit der Überraschungen. Vor wenigen Tagen,
wenigen Wochen war in Düsseldorf kein Fetzchen Margarine zu fin-
den. Stundenlang jagten die Hausfrauen umher, um schließlich ent-
mutigt und dem Weinen nah, mit leeren Händen heimzukehren. In
der Tasche hatten sie Papiergeld, das von Stunde zu Stunde an Wert
verlor. Es war nicht zu ändern. Erwerbslose, aufgepeitscht von
dunklen Ehrenmännern, rotteten sich zusammen, schlugen Fenster ein,
raubten Lebensmittellager aus und trugen den Schrecken in die Bür-
gerschaft. Da rief es von allen Seiten: Düsseldorf steht vor der
Hungersnot. Und der Dollar kletterte immer höher, als wollte er
den Mount Everest besteigen, und die Papiermark lag im Sterben.
Da – plötzlich, ein Wunder geschah. Der Dollar, dieser kleine Schä-
ker, machte plötzlich kehrt und ging zu Tal. Die Papiermark erholte
sich, weil man ihr -es ist nicht zu fassen- in Berlin mit dem
Stilllegen der Notenpresse den Lebensfaden abschnitt. Die Gehalts-
zahlungen kamen ins Stocken, das Geld wurde rarer. Siehe, da
sanken die Preise, und auf dem Markt und in den Geschäften häuften
sich die Lebensmittel. Was habe ich heute für Berge von Butter,
Speck, Fett und Schinken gesehen! Woher nun plötzlich dieser Reich-
tum? Wie kommt es, dass auf dem Markt das längst verstummte süße
Locken wieder ertönt: Ach, nehmen Sie doch diese Büchse Corned-Beef
noch mit!? Wie kommt es, dass in Berlin ein Warenhaus 20 Prozent

Rabatt gibt, wenn in Papiergeld gezahlt wird? Wo war denn alle
die Ware, als wir vor Wochen Papiergeld genug in der Hand hatten,
um kaufen zu können? Haben die Heinzelmännchen das alles in
einer Nacht zu uns gebracht, um uns zu zeigen, wie schön es wäre,
wenn wir noch das Geld des vorigen Monats in Händen hätten, denn
dann könnten wir kaufen! Neulich konnten wir für 4 Billionen nicht
bekommen, was jetzt für 2 und weniger im Überfluss vorhanden zu
sein scheint. Wer erklärt uns dieses Naturwunder? Ich wäre für
Aufklärung sehr dankbar; denn wir denken nicht gern etwas Böses
von unseren lieben Nächsten. Gewiss haben die Heinzelmännchen oder
der Nikolaus das geschafft.

Ob dieser Zustand anhalten wird? Ich fürchte nein; denn in un-
serer Lage hat sich nichts geändert. Wenn nur der Dollar nicht wieder
das Klettern anfängt und alle Lebensmittel als Proviant auf die
Hochgebirgstour mitnimmt. Ich traue dem Racker solche kleine Bos-
heiten zu. Das Unternehmen, die Mark zu festigen, hat einen hero-
ischen Zug, aber kann es gelingen? Wir haben noch keine internationale
Anleihe, und auch sonst ist der auf uns lastende Druck nicht vermindert,
aber freilich, eines entzieht sich unserer Kenntnis, das ist die Be-
urteilung, wie weit die Mark tatsächlich innerlich entwertet ist und
wie weit sie nur durch spekulative Börsenmanöver gedrückt worden
ist. Dass letzteres auch mitspielt, unterliegt keinem Zweifel.

Gutschein der Stadt Barmen über 500 Milliarden Mark; Datum: 30. Oktober 1923; Aus Bestand: AEKR, Notgeldsammlung