Am 1. März präsentierte Dr. Flesch in seinem Artikel Ein relativer Befund: Die „Überalterung des rheinischen Pfarrerstandes„ eine Statistik aus dem Jahr 1946, die zu dem Ergebnis kam, dass die aktiven Pfarrer der rheinischen Landeskirche mit ihrem durchschnittlichen Lebensalter von 47,5 Jahren überaltert seien. Knapp 70 Jahre später hat sich dieser Durchschnittswert sogar um beinah zehn Jahre erhöht.
Ein Dokument, das mir vergangene Woche in die Hände fiel, bot mir nun die Möglichkeit die Stichprobe aufs Exempel zu machen, ob dieser Trend in rückläufiger Richtung ebenfalls zu beobachten ist. Ob also die Pfarrer in früherer Zeit durchschnittlich jünger waren?
Tabelle der Konsistorialkirche Moers, 1816, aus Bestand: AEKR 3MB006(Moers), Nr. 86, 106 bWeiterlesen →
In den bereits vorgestellten statistischen Unterlagen des Konsistoriums findet sich auch eine Grafik zu den Kirchenaustritten im Gebiet der Rheinischen Kirche 1909-1942. Die niedrigen Ziffern bis 1914 spiegeln die rechtlichen und gesellschaftlichen Restriktionen wider, mit denen Austrittswillige im Kaiserreich konfrontiert waren. Mit dem Beginn der Weimarer Republik und dem Ende der Staatskirche kam es 1920 zu einem sprunghaften Anstieg der gewissermaßen aufgestauten Austritte. Nach der Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse seit 1924 verlief der Trend der Kirchenaustritte unter starken Schwankungen tendenziell nach oben.
Statistik über die Kirchenaustritte im Gebiet der Rheinischen Kirche zwischen 1908 und 1942
Bestand: 1OB 002 (Konsistorium), Nr. 2741
Auffällig ist der scharfe Rückgang auf nur noch 4.000 Austritte im Jahr 1933. Hintergrund ist das zumindest anfänglich von der NSDAP vermeintlich propagierte „positive Christentum“. Mit der Verfestigung des totalitären nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs im Alltag traten in den Folgejahren, z. T. auch aus opportunistischen Gründen für den beruflichen Aufstieg in Partei und Staat, immer mehr Menschen aus den beiden großen Kirchen aus. 1937 vollzogen diesen Schritt allein in der rheinischen Provinzialkirche 42.000 Evangelische. Nach Kriegsausbruch fielen die Zahlen auf das Niveau zur Zeit der Weimarer Republik zurück.
Die Zahl von 1937 wurde erst 2022 wieder übertroffen, als in der nunmehrigen EKiR 44.551 Austritte zu verzeichnen waren. Dies geschah auf der Grundlage von 2,2 Millionen Gemeindegliedern, was mit den in der Volkszählung 1933 für das gleiche Kirchengebiet ermittelten 2,16 Millionen fast identisch ist. Hier hat sich nach drei Generationen demografisch gewissermaßen ein Kreis geschlossen: Durch die Zuwanderung an evangelischen Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und die starken Geburtsjahrgänge der Babyboomer hatte die Rheinische Kirche 1970 mit knapp 4 Millionen Gemeindegliedern ihren zwischenzeitlichen Höchststand erreicht.
So ist eine statistische Übersicht aus dem Jahr 1946 betitelt, die alle 731 damaligen Gemeindepfarrer der rheinischen Provinzialkirche nach ihrem Lebensalter aufschlüsselt.
„Überalterung des rheinischen Pfarrerstandes“ im Diagramm dargestellt. Stand: 1.09.1946. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 11
Auffällig sind dabei die überproportional stark vertretenen Geburtsjahrgänge 1901 und 1909. Insgesamt errechnet sich so ein Durchschnittsalter von 47,5 Jahren. Damals galt für Pfarrer noch die Regelaltersgrenze von 70 Jahren, die erst 1980 analog zu den beamtenrechtlichen Vorgaben auf 65 Jahre abgesenkt wurde. Auch zuvor konnten Pfarrer aber ab dem 65. Lebensjahr auf eigenen Antrag in den Ruhestand gehen.
Es liegt nahe, den damaligen Befund einer kritischen „Überalterung“ einfach mal unkommentiert mit der heutigen Altersstruktur der rheinischen Pfarrerinnen und Pfarrer in der EKiR zu vergleichen: Zum Stichtag 1.10.2023 waren im Gemeindedienst 1072 Pfarrstellen besetzt. Die Amtsinhaber sind im Durchschnitt 56 Jahre alt. Hinzu kommen 614 Funktionspfarrstellen etwa für Krankenhausseelsorge, Evangelischen Religionsunterricht oder JVA-Seelsorge, die 1946 noch deutlich geringer vertreten waren. Hier liegt der Altersdurchschnitt bei 57 Jahren.
In einer Mappe unseres Konsistoriumsbestandes befinden sich statistische Übersichten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46. In einer kleinen Serie von Beiträgen sollen hier im Blog einige der damaligen Themen vorgestellt werden. Den Start markieren drei zeichnerische Kompositionen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges für die damalige rheinische Provinzialkirche.
Grafische Darstellung des Kriegseinsatzes rheinischer Geistlicher. Stand: 1.01.1945. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 3
Bei dieser Übersicht wird der hohe Mobilisierungsgrad deutlich, dem vor allem die jüngeren evangelischen Theologen unterworfen waren. Nahezu alle ordinierten Hilfsprediger und noch nicht ordinierte Vikare wurden einberufen. Von diesen beiden Gruppen, die entweder an vorderster Front oder im frontnahen Sanitätsbereich eingesetzt wurden, ist jeder Vierte gefallen (79 von 327). Von den aktiven Gemeindepfarrern, die altersbedingt „nur“ zu 45 % mobilisiert wurden, sind weitere 37 Männer dem Krieg zum Opfer gefallen, teilweise durch Luftangriffe auf ihre Kirchengemeinden.
In piam memoriam. Grafische Darstellung gefallener rheinischer Geistlicher im 2. Weltkrieg. Stand vom 1.09.1946. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 4
Ein weiteres Blatt widmet sich den daraus resultierenden Schäden an Gebäuden der Inneren Mission in der Nordrheinprovinz. Unter dieser ist der Landesteil Rheinland des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zu verstehen. Von den 190 Heimen und Einrichtungen wurden demnach fast zwei Drittel zerstört oder schwer beschädigt. Zeichnungen veranschaulichen dabei den unterschiedlichen Zerstörungsgrad.
Kriegsschäden an Gebäuden der Inneren Mission in der Nordrheinprovinz. Stand: 1.09.1946, grafisch illustiriert. Aus Bestand: AEKR 1OB002(Evangelisches Konsistorium der Rheinprovinz), Nr. 2741, 5
Meine Urgroßmutter starb im Herbst 1918 im saarländischen Industrierevier als junge Frau. Sie hinterließ eine zwölfjährige Tochter, meine Großmutter, von der ich als Jugendlicher erfuhr, ihre Mutter sei wie viele andere damals an einer grassierenden Grippeepidemie innerhalb von nur drei Tagen gestorben. Warum starb man als junger kräftiger Erwachsener an einer Grippe? Erst viel später fand ich historische Literatur zum Thema und verstand die Zusammenhänge: Die nur zufällig so benannte Spanische Grippe forderte weitaus mehr Opfer als der Erste Weltkrieg und zählt zu den schwersten Pandemien der Geschichte. Allein im Deutschen Reich sind 1918-1920 zwischen 300.000 und 600.000 Menschen an der Grippe gestorben. Weltweit belaufen sich die vorsichtigsten Schätzungen auf 25 Milionen Grippetote, kalkuliert wird auch mit der doppelten bis dreifachen Zahl.
Auf der Grundlage der Sterberegister der evangelischen Kirchengemeinde Düsseldorf (damals mit ca. 90.000 Gemeindegliedern eine der größten Kirchengemeinden im gesamten Reich) soll die Dramatik des Geschehens an einem regionalen Beispiel veranschaulicht werden.
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