Hier soll von einem Beispiel dafür berichtet werden, dass sich Berichte in autobiographischen Darstellungen nicht immer in den Quellen wiederfinden: Von 1892 bis 1898 amtierte in der fünften Pfarrstelle der Evangelischen Gemeinde Düsseldorf Pfarrer Samuel Keller. Er wurde 1856 in St. Petersburg als Sohn eines aus der Schweiz zugewanderten Waisenhausvaters und Lehrers geboren.
Seine ersten Pfarrstellen hatte Samuel Keller in Grunau (Russland, 1880-1884) und Neusatz auf der Krim (1884-1891) inne, wo er die deutschen Kolonisten als Seelsorger betreute. Da seine Arbeit „eine ungewöhnlich dichte Frucht“ brachte, „wurde er ‚oben‘ unliebsam, und wenn er nicht ostwärts, d.h., nach Sibirien, verschwinden wollte, mußte er sich westwärts wenden.“, so Oskar Brüssau, S. 37.
Samuel Keller und seiner Frau Elisabeth Wilhelmine geb. Clever wurden vier Kinder geboren, Hans (1881), Margarete („Grete“, 1882), Maria („Mulla“, 1884) und als Nachzüglerin in Düsseldorf Elisabeth („Lia“, 1897). Keller erwähnt diese in seiner Autobiographie „Aus meinem Leben„, die in zwei Bänden 1917 und 1922 erschien. Drei der Kinder sind auch in „Wer ist’s„, V. Ausgabe 1911, auf Seite 708 aufgeführt. Maria fehlt – und damit sind wir beim Kern dieses Beitrages.
Ich möchte Samuel Keller selbst zu Wort kommen lassen (Aus meinem Leben, Bd. 1, S. 267f.): „Einen schweren, schmerzhaften Einschnitt in unser Familienleben brachte der Tod unserer zehnjährigen Mulla. Sie war hübscher und begabter, als unsere anderen Kinder und wurde vielleicht von beiden Eltern am ehesten verzogen. Als sie im Herbst 1896 an Diphteritis erkrankte, zog meine Frau sofort mit ihr ins evangelische Krankenhaus, damit das Pfarrhaus nicht zum Ansteckungsherd für seine vielen Besucher würde. Das neu erfundene Serum war noch nicht gleich zu haben. Als man es erhielt und anwandte, war es zu spät. In der letzten Nacht wollte die Kleine immer wieder das Lied hören: ‚Laß mich gehn, laß mich gehn, daß ich Jesum möge sehn!‘ … Darum habe ich auch auf ihren Leichenstein bloß gesetzt: ‚Mulla: ‚Laß mich gehn, laß mich gehn, daß ich Jesum möge sehn‘.‘ Am Morgen des zwölften Krankheitstages ging es zu Ende.“
Keller erwähnt weiter, dass sie „von der Düsseldorfer Gemeinde … viele Beweise der Freundlichkeit erleben durften.“ Im Folgenden gibt er (S. 269) ein Gedicht wieder, das „Fräulein Fanny Stockhausen“ ihnen zugesandt hatte:
„Gestorben? – nein, es schlief nur ein
Das Mägdelein.
Der Engel stand bereit zum Flug,
Der es hinauf zu Jesu trug.
Mit Kindern, die auch selig sind,
Spielt dort das Kind –
Und schaut mit Augen fromm und licht
Jetzt seines Hirten Angesicht!
…“
Diesen Abschnitt aus den Lebenserinnerungen hat auch Helmut Ackermann in seiner Geschichte des Evangelischen Krankenhauses Düsseldorf, S. 84f., zitiert.
Die Recherche nach den Quellen für den Tod der „Mulla“ brachte ein Nachfahre Kellers in Gang, der nach dem Eintrag im Bestattungsbuch der Evangelischen Gemeinde Düsseldorf (Bestand 4KG 005) fragte. Da er auf die Darstellung in der Autobiographie hingewiesen hatte, war ich sehr überrascht, keinen Eintrag im Kirchenbuch zu finden – weder im Herbst 1896 noch 1895; Keller selbst sorgt hier für Unklarheit, da er 1896 und die „zehnjährige Mulla“ erwähnt, Maria Keller wurde jedoch am 30.10.1884 getauft (Recherche bei FamilySearch durch den Nachfahren Kellers). Kam der fehlende Nachweis der kirchlichen Bestattung in Düsseldorf schon überraschend, so war das Ergebnis der Anfrage des Nachfahren beim Stadtarchiv Düsseldorf nach der Sterbeurkunde des Standesamtes für Maria („Mulla“) Keller unerwartet: Auch dort findet sich kein Eintrag. Denn das bedeutet, wenn man der ordentlichen Bürokratie in Preußen vertraut, dass Maria („Mulla“) nicht wie vom Vater selbst dargestellt verstorben ist …
Samuel Keller verließ die Evangelische Gemeinde Düsseldorf 1898 und wirkte bis zu seinem Tod 1924 – seit 1903 von Freiburg im Breisgau aus – als Evangelist und Schriftsteller.