Klassenfoto mit Massenmörder, oder: Die Problematik christlicher Schuldvergebung

Der vielfach ausgezeichnete Journalist Jürgen Gückel hat jetzt eine aufrührende Studie zu dem SS-Hauptsturmführer Artur Wilke veröffentlicht, seinem ersten Lehrer in der Nachkriegszeit. 1963 wurde dieser zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Hierzu hat Gückel auch im Archiv der EKiR geforscht. Wer aber war Artur Wilke und warum finden sich zahlreiche Briefe von ihm im Düsseldorfer Archiv?

Klassenfoto mit Massenmörder; Vandenhoeck & Ruprecht; ISBN: 978-3-525-31114-1

Diese Fragen führen zu einem Bestand, der seit seiner Erschließung 2005 bereits Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Publikationen wurde: Der Nachlass des Wuppertaler Theologen Prof. Hermann Schlingensiepen enthält umfängliche Korrespondenzen mit den in den großen NS-Prozessen der 1960er Jahre verurteilten Massenmördern der Einsatzgruppen und Konzentrationslager.

Das Einschulungsfoto zeigt links den vermeintlichen Lehrer Walter Wilke, der in Wahrheit Artur hieß und ein studierter Theologe und Massen­mörder war. 1945 schlüpfte er in die Rolle seines gefallenen Bruders. Im Tötungs­lager Malyj Trostenez bei Minsk hatte Artur Wilke mindestens 6600 Menschen eigenhändig ermordet beziehungs­weise ihre Erschießung oder Tötung in einem Gaswagen angeordnet. In Weißrussland ließ er im Zuge der „Partisanenbekämpfung“ Dutzende Dörfer räumen, zerstören und ihre Bewohner töten.

Nach dem Eichmann-Prozess war Prof. Hermann Schlingen­siepen in einen schriftlichen Diskurs mit zahlreichen Verurteilten getreten, um sie zur Einsicht in die eigene Schuld und die Notwendigkeit gerechter Sühne zu bewegen, die dann die Grundlage einer christlichen Schuld­vergebung bilden könne.

Artur Wilke hat sich jedenfalls nie zu der Erkenntnis durchgerungen, eigene Schuld auf sich geladen zu haben. Er sah sich vielmehr bis zum Lebens­ende als verführtes, aber eides­treues Werkzeug jener NS-Ideologie, die ihn zu seinen Taten befohlen hatte. Er versuchte gar, sein Handeln und das Fehlen jeder Alternative aus der Bibel, speziell dem Matthäus-Evangelium, abzuleiten. Der Autor Jürgen Gückel holte sich aber rechtzeitig guten Rat bei dem Berliner Holocaust-Forscher Peter Klein: „Du (der Autor) hast Klein erklärt, was du vorhast. Dass du auch die Briefe Wilkes und Schlingensiepens im Archiv der evangelischen Landeskirche des Rheinlandes einsehen willst. Er hat dich gewarnt: ´Studieren Sie erst, was die getan haben in Minsk, ehe Sie sich mit ihren Rechtfertigungen befassen. Man muss erst wissen, was passiert ist.´Du bist seinem Rat gefolgt.“ (S. 185f.)

Die Korrespondenz Schlingensiepens mit Wilke und den übrigen NS-Verbrechern ist oft nur schwer zu ertragen. Mit den theologischen und vor allem ethischen Grenzen eines Sich-Einfühlens in die Täter, die dort deutlich werden, haben sich bereits die Studien von Katharina von Kellenbach und Heiner Süselbeck beschäftigt. Es gibt bei dem Ansatz Schlingensiepens viele Parallelen zu dem pfälzischen Kirchenpräsidenten Hans Stempel, dessen Tätigkeit bei unserer Nachbarkirche aktuell kritisch erörtert wird.

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