„Verschleierte Bilder“- Wenn der Krieg noch nicht zu Ende ist

Verschleierte Bilder – 7NL 135 Sup. Werner Krause Nr. 4

Früher führte ich ein Tagebuch. Dann kam ich in sowjetische Gefangenschaft. Da waren Tagebücher unmöglich. Da war alles so unmöglich, dass ich zu mir selbst sagte: Ich will dies alles nicht registrieren. Es wird genügen, wenn Du nachher aufzeichnest, was an Bildern noch lebendig ist...“.

Mit diesen Worten beginnen die Aufzeichnungen der Erlebnisse eines Kriegsgefangenen in Sowjetrussland. Niedergeschrieben wurden sie vom späteren Superintendenten Werner Krause (7NL 135 Nr.4).

Krause, der mit 23 Jahren am 1. Sept. 1940 in die Wehrmacht einberufen worden war, ging am 10. Mai 1945 als Nachrichtenoffizier und Führer der Stabsbatterie eines Artillerieregiments mit dieser Truppe in Mähren in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

Es ist Sonntagnachmittag am Sonntag vor Pfingsten 1945. Es ist sehr warm. Da liegt ein tschechisches Dorf im Sommerglanz und Sonnenmüdigkeit (…). Eine Staubwolke begleitet uns. Wir marschieren an den Blicken der Menschen vorüber, die uns nicht lieben. Wir sind müde, ab und an stolpert einer. Wir wissen nicht was aus uns werden wird. Wir sind tausende deutsche Offiziere auf dem Weg nach Brünn“ .

Der damalige Leutnant Werner Krause ahnte nicht und konnte es auch nicht ahnen, aber dieser Marsch war der Beginn einer mehr als viereinhalb Jahre dauernden Gefangenschaft in den fünf sowjetischen Lagern Usman, Georgijevsk, Stavropol, Maschuk und Pjatigorsk.

Unendliche Weite – vor wenigen Tagen hat sie begonnen, als wir am Rand der blauen Karpaten verladen wurden in Richtung Russland. Die Angst unseres ganzen Volkes war jahrelang konzentriert in diesem einen Wort „Russland“. (…) Nun gibt es keine Heimat mehr, kein Deutschland, keinen, der uns den Rücken stärkt. Wir sind allein. Und die Weite umgibt uns. Wir sehen sie nicht. Nur zwei kleine Luken, mit Stacheldraht überzogen, sind in unserem kleinen Viehwagen geöffnet“ .

Dr. Lehmann lernt russische Vokabeln. Wir blicken uns an. Ich bin mit Faust beschäftigt. (…) „Resignation wäre die grösste Sünde“, sagt Bischof Lilje in Deutschland. Das erfahre ich erst Jahre danach. Aber auch wir wollen nicht resignieren. (…) Selbstzucht und Glaube werden uns über das Chaos tragen, dessen sind wir gewiss. Und darum greifen wir nach den russischen Vokabeln und dem Faust…“ .

Werner Krause gab sich in Gefangenschaft nicht auf und ließ sich nicht gehen sondern stellte sich auf sein Schicksal ein. Er vertiefte schnell seine Grundkenntnisse in Russisch und wurde dann wegen dieser Sprachkenntnisse in der Registratur der Lager eingesetzt. Krause übernahm Übersetzungsarbeiten für Kameraden, referierte Vorträge und – dies war sein größtes Anliegen – er hielt Gottesdienste und Bibelkreise. All diese Aufgaben schufen ein gewisses Maß an Normalität im Lager. Zur traurigen Normalität gehörten aber auch der Hunger und im Winter die Kälte, die das Lagerleben besonders hart machten.

„Viele laufen auf Lappen, fast alle in primitiven Holzschuhen. Die alten Jacken zerfallen. Die Mäntel sind zerschlissen und viel zu dünn. Am Morgen um sechs Uhr haben wir einen Löffel Kohl mit einem halben Liter Wasser dazu bekommen, ausserdem ein klitschignasses Stück Schwarzes Brot von etwa 120-150 Gramm. Das nächste Essen wird es Abends um 6 Uhr geben (…). Und wenn wir Glück haben, wird es schon um 10 Uhr oder aber um 12 Uhr oder um 2 Uhr nachts die Abendsuppe – Hirsesuppe – mit genauso viel Brot geben. Dazu allerdings werden wir 40g Zucker und die 30g Butter aus amerikanischen Konserven essen und die Raucher werden hinterher Machorka rauchen. Und dann werden wir den bleiernen Schlaf der Hungrigen weiterschlafen, unendlich dankbar für die animalische Wärme, die wir nachts, Körper an Körper gepresst, fast erstickend in den Russchwaden (sic) der kleinen Petroleumlämpchen, empfinden“.

An Hunger, Kälte, schlechten hygienischen Bedingungen, Entkräftung und Krankheit starben von den insgesamt ca. 3,2 Millionen deutscher Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ca. 1,1 Millionen ohne ihre Heimat wiederzusehen.

Auf jedem der Hügel steckt ein Knüppelchen, daran hängt ein winziges Holzschild mit einer Zahl, die zum Teil kaum noch zu lesen ist (…) Ich stehe so, dass die Gräberreihen alle auf mich zuzulaufen scheinen. Und da überkommt mich ein Grauen, neunhundertachtundsechzig Mann liegen hier, unweit davon in nicht mehr feststellbaren Massengräbern hunderte und aberhunderte. Und vor meinem Auge stehen sie in Reihen dar, wie sie einst singend marschierten, die Regimenter, die Deutschlands Zukunft bauen sollten (…) Und nun liegen sie hier. Nie wird ein Mensch ihr Grab besuchen. (…) Ich kam, um Abschied zu nehmen. Ich möchte, für sie alle ein Gebet sprechen. Es fällt mir ein Augenblick lang schwer. War das wirklich Gottes Wille, was da geschehen ist? Aber dann denke ich an den, der uns beten lehrte. Und ich spreche getrost: „Unser Vater, der du bist im Himmel…

Der christliche Glaube war eine wichtige Kraftquelle für Werner Krause. Er half dem Kriegsgefangenen, den von schwerer Arbeit gezeichneten Alltag, die ständigen Versuche der sowjetischen Propaganda ihn zum Marxisten zu bekehren und nicht zuletzt auch Denunziation und Feindschaft aus den Reihen seiner Mitgefangenen zu überstehen. Und er half dem Menschen Krause, sich auch in den schwierigen Zeiten etwa den Blick für die Schönheiten der Natur zu bewahren.

Und so schwelge ich in meinem Elend in Rosen. Und ihr Duft und ihre unendliche Reinheit sind himmlische Medizin. Es fällt mir schon leichter. Und später werden sich Freunde über meinen leichten Gang wundern. Das habe ich schon im Kriege gelernt und in der Gefangenschaft geübt: wenn man nichts mehr hat und am Ende ist, dann muss man die Dinge betrachten, die man dennoch hat, weil Gott sie in seiner Barmherzigkeit allen zukommen lässt.“

Nach fünf langen Jahren war es schließlich soweit. Werner Krause sollte aus der Gefangenschaft entlassen werden.

Es ist der 18. Dezember 1949. Am Nachmittag werde ich mit fast allen Kameraden das Lager verlassen, um nach Hause zu fahren. Die Spannung ist gross. Denn unter uns sind viele, die der Russe nur sehr ungerne fahren lässt.“

In der Tat mußten viele deutsche Soldaten weiter in den sowjetischen Lagern ausharren, bis auch sie 1955/56 endlich wieder in die Heimat zurückkehrten konnten.

Wenn in Deutschland jährlich am 8. Mai des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa und des Zusammenbruches des NS-Staates als Tag der Befreiung gedacht wird, dann darf nicht vergessen werden, dass der Krieg an diesem Tag keineswegs für alle unmittelbar vorüber war. Die häufig zitierte aber unter Historikern und Politikwissenschaftlern nicht unumstrittene „Stunde Null“ schlug bei weitem nicht für jedermann, besonders nicht für die Soldaten.

Was ein Leben in Gefangenschaft bedeutet, was man dabei erlebt, denkt, fühlt und entbehrt, ist für die vielen schwer vorstellbar, die das Glück haben im Frieden geboren und aufgewachsen zu sein und zu leben. Tagebücher, Memoiren und Niederschriften, wie in diesem Beispiel von Werner Krause, sind daher wichtige historische Quellen. Sie vermitteln nicht nur Eindrücke und Einblicke in die Vergangenheit, sondern können auch lehrreich für unsere Gegenwart sein. So ermahnen die Erinnerungen des Superintendenten Werner Krauses , Frieden und Freiheit als kostbare Güter wert zu schätzen, derer wir uns stets bewußt sein sollten und nicht erst dann, wenn wir sie teilweise oder ganz verloren haben.

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