Bittbrief des Vereins Säuglings- und Genesungsheim Bonn im November 1918 um Unterstützung

Saeuglings- und Genesungsheim, 2. Jahresbericht 1914, Bonn am Rhein. Archivbibliothek, ZK1392

Im Bestand der Kleinschriften aus der Geschichte der Inneren Mission, die wir mit dem Archiv des Diakonischen Werkes übernommen hatten, fand sich ein Heft „Satzungen des Vereins ‚Säuglings- und Genesungsheim‘ E. V., Bonn“, etwa von 1913. Diese Quelle mag v. a. lokale Bedeutung haben. Interessant sind aber Schreiben, die in diese Satzung eingelegt worden waren. Diese geben nämlich die Probleme der Notzeit im November 1918, zu Ende des Ersten Weltkriegs, wieder. Es schreibt die Schriftführerin des Vereins ‚Säuglings- und Genesungsheim‘, Frau Geheimrat A. Grafe, an den Vorsitzenden des „Vereins für Innere Mission“, Herrn Commerzienrat Colsmann, Langenberg. Gemeint ist der „Provinzialausschuss für Innere Mission“, einer der beiden Vorgänger des späteren Diakonischen Werkes; Vorsitzender ist Emil Colsman (1848-1942), dessen Familie sich über Jahrzehnte kirchlich engagiert hat. Das handschriftliche Schreiben vom 9. November 1918 lautet:

Schreiben zur Lage des Saeuglings- Genesungsheim e. V. an den Verein für innere Mission, 9. November 1918, Bonn. Archivbibliothek, ZK1392

Der unterzeichnete Verein gestattet sich in einer Notlage, die das Weiterbestehen des segensreichen Werkes in Frage stellt, sich mit der Bitte um Unterstützung an den Verein für Innere Mission zu wenden.

Unser Verein, dessen Satzungen ich beilege, wurde gegründet im Jahre 1913 zunächst für 9-12 evangelische Kinder [und] 6 Mütter, da das lange bestehende katholische Säuglingsheim Evangelischen keine Zuflucht gewährt [und] diese somit in bitterster Not waren. Das Lungstras-Stift ist Entbindungsanstalt [und] dient also anderen Zwecken.

Wir hielten es für dringend wünschenswert, auch die Mütter mitaufzunehmen, nicht nur, damit sie ihre Kinder durch Stillen möglichst kräftigen sollen, sondern auch um Liebe [und] Verantwortungsgefühl in ihnen zu wecken oder stärken [und] ihnen einen Halt zu bieten.

Das geringe Kapital von ca. 38.000 M. mit dem wir das Heim begründeten, vorzeitig von der grossen Not getrieben, wurde durch Privatspenden Mitgliederbeiträge [und] eine Provinzialcollecte erworben. Um unsere Arbeit auf breitere Basis zu stellen, beschlossen wir später, altkatholische und israelitische Pfleglinge aufzunehmen, für die auch keine Fürsorge besteht.

Der Krieg stellte uns dann plötzlich vor grosse neue Aufgaben. Die Aufnahmegesuche mehrten sich ständig, dadurch, dass viele Mütter, die vorher selbst für ihre Kinder sorgten, nun in Munitions- oder Hilfsarbeit gehen [und] dadurch gezwungen sind, ihre Kinder zuverlässiger Heimpflege zu übergeben.

So sahen wir uns genötigt, um wenigstens teilweise den Bitten um Aufnahme gerecht werden zu können, das kleine enge Haus mit einem grösseren zu vertauschen, was natürlich viele Kosten [und] dringende Anschaffungen erforderte, obschon wir uns tunlichst mit geliehenen [und] geschenkten alten Sachen begnügten. Wir haben jetzt durchschnittlich 35-40 Kinder, 6-9 Mütter.

Dass wir bei der täglich wachsenden Teuerung auf allen Gebieten unsere Mütter [und] Kinder für die bezahlten Beträge nicht annähernd auch nur ernähren können, ist selbstverständlich. Umsomehr, als wir die Mütter möglichst lange zu behalten bemüht sind [und] ihnen das ermöglichen, indem wir nach 6 wöchentlicher Frist freie Station gegen Arbeitsleistung bieten. Die enormen Ausgaben für Wäsche, Heizung, Gehälter, Reparaturen steigern die Schwierigkeit.

Wir mussten im vergangenen Jahr über 7000 M. unseres kleinen Kapitals verbrauchen [und] in diesem Jahr ist der Fehlbetrag nicht geringer, so dass wir, um keine Schulden zu machen, uns sogar zum Verkauf einer Kriegsanleihe entschlossen. Die fürchterliche Notlage zwang uns auch dazu, einige katholische Säuglinge aufzunehmen.

Ausser der Pflege der Kinder widmen wir unser Heim auch der Ausbildung von Schülerinnen in Säuglingspflege, wozu wir staatlich berechtigt sind. Wir haben ständig 6-7, die im Hause wohnen müssen [und] die staatliche Prüfung ergab bisher die besten Resultate. Aber auch hier decken die Einnahmen nicht annähernd die Äusgaben!

Infolge aller dieser Schwierigkeiten sehen wir mit der grössten Besorgnis in die Zukunft [und] fürchten, dass wir unser segensreiches Werk werden einstellen müssen, wenn uns nicht bald Hilfe wird. Wir würden das um so mehr beklagen, als unsere Erfolge bisher ausserordentlich günstig waren [und] es auch heute noch unmöglich ist, evangelische Kinder in gesicherte Fürsorge zu bringen. Von 81 im Jahre 1917 gepflegten Kindern starben nur 2 [und] auch von den entlassenen nur eine ganz geringe Anzahl. Von den unehelichen Müttern haben über 30 % geheiratet [und] führen ein geordnetes Familienleben. Solange, als irgend möglich, bleiben wir mit unseren Pfleglingen in Verbindung [und] verfolgen ihre Schicksale.

Aus allen diesen Gründen hoffen wir zuversichtlich, keine Fehlbitte zu tun. Ich erlaube mir, ausser den Satzungen, den letzten gedruckten Jahresbericht beizulegen. Aus Sparsamkeitsgründen ließen wir den vorigjährigen nicht drucken. Mit vorzüglicher Hochachtung. Frau Geheimrat A. Grafe, Schriftführerin

Der im letzten Absatz erwähnte letzte gedruckte „3. und 4. Jahresbericht 1915/16“ im Volltext:

In gleicher Sache liegt ebenfalls ein Schreiben vom 8. November 1918 von der Vorsítzenden der Ortgruppe Bonn des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, Charlotte Schumm-Walter, vor. Diese Ortsgruppe hatte das Säuglingsheim und dessen Trägerverein gegründet und engagiert sich auch finanziell für diese Aufgabe. Interessant ist noch die Angabe, dass viele Mütter und ihre Kinder nicht aus Bonn, sondern aus dem Umland stammen, und die Stadt Bonn daher nicht bereit ist, Zuwendungen – außer dem Pflegegeld für einige Kinder – zu machen. Die Evangelische Gemeinde Bonn unterstütze den Verein mit einem jährlichen Beitrag.

Colsman verspricht in zwei Schreiben vom 13.11.1918, das „wohl begründete Gesuch“ dem Vorstand des Provinzialausschusses für Innere Mission vorzulegen, doch sei „dessen Entscheidung in Anbetracht der jetzt so erschwerten Versammlungs-Möglichkeit nicht zu bald zu erwarten.“

Dass der Verein in Bonn dann in den folgenden zwölf Monaten weder eine Unterstützung noch wenigstens eine Nachricht erhalten hat, erfahren wir aus einem kurzen Schreiben der Schriftführerin, Frau Grafe, vom 6. November 1919, in dem sie die Bitte um Unterstützung wiederholt. „Das Weiterbestehen des Liebeswerkes“ sei „durch durch die ungeheuren Preise für den Lebensunterhalt unserer Pfleglinge ernstlich gefährdet.“

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