John Locke (1632-1704), den bedeutenden Philosophen und Staatstheoretiker, verbindet man erst einmal nicht unbedingt mit dem niederrheinischen Protestantismus. Als junger Mann weilte er aber von November 1665 bis Februar 1666 als Sekretär von Sir Walter Vane in Kleve. Dieser traf sich in der Schwanenburg zu diplomatischen Gesprächen mit dem brandenburgischen Kurfürst Friedrich Wilhelm. In der Literatur findet sich hierzu immer wieder die kurze Einschätzung, Locke habe bewundert, wie friedlich und tolerant dort die Konfessionen miteinander lebten. Grund genug, sich einmal die Originalbriefe Lockes aus diesen Monaten in der kritischen Locke-Gesamtausgabe genauer anzuschauen.
Insgesamt zehn Briefe stammen aus der Klever Zeit (Nr. 175-184). In der Tat schildert er gleich im ersten Brief vom 22.12.1665, dass es zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten zu Kleve keine offenen Religionsstreitigkeiten gebe. „They quietly permit one another to choose their way to heaven.“ Diese Haltung sei zum einen durch die strikten Vorgaben der Herrschaft begründet, zum anderen aber durch die „prudence and good nature of the people“, also durch eine gewisse niederrheinische Gemütlichkeit. Die Stadt Kleve selbst beeindruckte ihn keineswegs, sie sei klein und völlig unregelmäßig angelegt.
Sehr gut verstand sich Locke bei verschiedenen Begegnungen mit katholischen Klerikern. Die größte Herausforderung lag dabei für ihn noch auf kulinarischem Gebiet, musste er sich doch bei einem gemeinsamen Essen erstmals mit Kümmelkäse („cheese with caraway seeds in it“) auseinandersetzen.
Als anstrengender erwiesen sich für Locke, der selbst aus einem puritanischen Elternhaus stammte, die eigenen oder zumindest artverwandten Glaubensgenossen. So legte es ein junger reformierter Vikar oder Hilfsgeistlicher, ein „probationer“, darauf an, ihn in eine hitzige theologische Debatte zu verwickeln. Da Locke kein Deutsch sprach oder verstand, wurde der Streit in Latein ausgetragen. Locke hielt diesen nervtötenden Geistlichen („sucking divine“) argumentativ auf Abstand, bis diesem vor schierer Erschöpfung im Wortsinn die Luft ausging. Locke konnte sich dessen seltsamen Glaubenseifer nur so erklären, dass dies wohl eine vorgeschriebene Bewährungsprobe bei der Ausbildung reformierter Prediger sei. Einziger Leidtragender der völlig sinnfreien Diskussion sei der antike Grammatiker Priscian geblieben, der aus dem Jenseits erleben musste, wie von beiden Kontrahenten permanent gegen die Regeln des klassischen Latein gesündigt worden sei.
Aufschlussreich für die zeitgenössische Gottesdienstpraxis sind Lockes Beobachtungen bei seinen Kirchgängen in den beiden protestantischen Denominationen. Im reformierten Gottesdienst findet nach der Predigt noch eine Taufe statt. Dabei fällt ihm auf, dass deutlich mehr Patinnen und Paten pro Kind erlaubt sind als in England. Dies habe für den Täufling später sicherlich praktische Vorteile. Beim lutherischen Gottesdienst am 10. Dezember 1665 liegt der Schwerpunkt eindeutig auf dem Gemeindegesang. Locke vermutet, dass von der Länge her der komplette 119. Psalm mit seinen 176 Versen gesungen wurde. Es dürfte sich dabei aber eher um Paul Gerhardts Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11) gehandelt haben, das, vollständig gesungen, ebenfalls einen halben Gottesdienst auszufüllen vermag. Das Lied sei aber sehr melodiös und gesangstechnisch besser als in England ausgeführt worden. Das gelte leider nicht für die Predigt, bei der ein gleichfalls „harmonisches Schnarchen“ im Publikum eingesetzt habe. Anlässlich der Weihnachtsgottesdienste zwei Wochen später wird er schließlich bei den Lutheranern Zeuge der Riten bei der Verteilung von Brot und Wein. Die vorangegangene Predigt, von der er ja kein Wort verstand, beschreibt er als „good lusty rattling High Dutch sermon“, also als kernig scheppernde Lauterfahrung in Hochdeutsch.
Das Locke mal in Kleve war wusste ich nicht. Obwohl ich Philosophie im Gymnasium in Kleve-Kellen hatte.