Sie kannten sich seit langem. Sie schätzten sich. Oberkirchenrat Johannes Schlingensiepen, Vorsitzender der Schülerbibelkreise, gratulierte seinem Vorgänger und Superintendenten Gustav Kertz mit den Worten zum siebzigsten Geburtstag am 16. Mai 1953: „Das B.K. – der B.K. – die B.K. An allen drei Artikeln haben wir miteinander herumbuchstabiert; am Ort, im Rheinland, im Reich. (Bibel-) Kränzchen – (Bibel-) Kreis – (Bekennende) Kirche! War es nicht ein gesegneter Weg voller Wunder der Gnade unseres Herrn?“ Dieser und weitere ca. 180 Geburtstagsgrüße fanden sich in einer mit rotbraunem Kunstleder eingeschlagenen und mit hölzernem B.K.-Emblem verzierten Kassette in dem Bestand „Schülerbibelkreise“ des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland (Signatur: 5WV 013, Nr. 343). Die zumeist handgeschriebenen und mit Fotos versehenen Grüße auf DIN-A5-Karten erinnern an die Zeit, die die Gratulanten prägten: die Jugendzeit in den Bibelkreisen, die Gruppen, vor allen Dingen die „FF“, die Ferienfahrten, die Reichstagungen. Es ist ein illustrerer Kreis: Kirchenpräsident Martin Niemöller, Bundestagspräsident Hermann Ehlers, Heinrich Held, Präses der Evangelischen Kirche, und die zukünftigen Präsides Joachim Beckmann und Karl Immer, selbstverständlich die Crème de la Crème der kirchlichen Jugendarbeit: Werner Brölsch, Walter Posth, Udo Smidt u.v.a. Neben den Gründern Wilhelm Weigle und Fritz Mockert gehörte Gustav Kertz zum „Urgestein“ der Schülerbibelkreise.
Gustav Kertz, geboren am 16. Mai 1883 in Frankfurt/Main, wurde 1912 Generalsekretär des „Nationalkomitees der Bibelkränzchen unter Schülern höherer Lehranstalten“. Zuvor war er Generalsekretär des CVJM in Nürnberg. Er war aufgeschlossen für die idealistische Jugendbewegung dieser Zeit, dem „Wandervogel“. Den Pfadfindergedanken übertrug er, abgewandelt, auf die Bibelkränzchen und versuchte, ihnen ein eigenständiges Gepräge zu geben. Im folgenden Jahr erschienen die „BK-Lieder“, das erste Liederbuch der evangelischen Jugend überhaupt. Auf Antrag der bayerischen Kreise wurden 1915 die „Bibelkränzchen“ unter Beibehaltung der Abkürzung „B.K.“ in „Bibelkreise“ und das „Nationalkomitee“ in den „Reichsverband der Schülerbibelkreise“ umbenannt. Diese Umbenennung war programmatisch. Zwischen der älteren und der jüngeren Generation entwickelten sich harte Auseinandersetzungen, zum einen um die pädagogische Ausrichtung, insbesondere über Form und Gestalt der Arbeit unter dem Motto „Von einer Leiterbewegung zu einer Mitgliederbewegung“, und zum anderen um theologische Ansätze weg von der pietistischen Tradition. Unter der Ägide Kertz‘ stieg, trotz des Ersten Weltkriegs, die Mitgliederzahl in den Bibelkreisen von 7.300 auf 18.420 an. Gegen Ende seiner Zeit als Generalsekretär 1919 erschien, als Ergänzung zur Jugendkraft, ein Blatt für die jüngeren BKler, die „Neue Jugend“ für ältere Schüler. Im gleichen Jahr wurde Gustav Kertz von Philipp Killinger abgelöst, der fortan den neuen Titel „Reichswart“ trug.
Ab Mitte der 1920ziger Jahre wandelten sich die Bibelkreise. Geschlossene Kreise mit fester Mitgliedschaft, „Kluft“ und Eintrittsversprechen, Fahnen und Wimpel, Paraden und Marschieren, Fahrten und Lagern bestimmten das Erscheinungsbild. In der Bibelarbeit, der nach wie vor eine zentrale Bedeutung zukam, bemühte man sich um thematische Zusammenhänge in jugendgemäßer Form. Auf Reichsebene führte dies 1928 dazu, dass der „Reichsverband der BK-Leiter“ in den „Bund Deutscher Bibelkreise“ umgewandelt wurde. Dem BK-Abzeichen, ein in Fraktur gesetztes BK mit Kreuz, folgte 1932 das Schwertkreuz mit Anspielung auf Epheser 6, 17. Die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten stellte die Schülerbibelkreise vor die Alternative Eingliederung der Schülerbibelkreise in die Hitlerjugend oder Auflösung. Mit seinem „grauen Brief“ löste Reichswart Udo Smidt den Verband im Februar 1934 auf.
Gustav Kertz wurde Pfarrer in Remscheid und Superintendent des Kirchenkreises Lennep. Zeit seines Lebens blieb er – wie der Landeswart und Vorsitzende der Schülerbibelkreise Johannes Schlingensiepen – mit der evangelischen Jugendarbeit verbunden. „Onkel Gustav“, dies war von Präses Heinrich Held keineswegs despektierlich, sondern wertschätzend gemeint, verstarb am 17. März 1954.