Biografien „gefallener Mädchen“- weitere Quellen des Magdalenenstifts in Boppard online

Emilie Kaiser geboren in Elberfeld von Ernst Liborius Kaiser und Anna Marie Hagenhaus aus Münster in Westphalen. Die Mutter starb im Jahre 1844. Es sind noch 5 Geschwister vorhanden. (…) Diese Verwahrlosung der ganzen Familie rührt wohl hauptsächlich daher daß der Vater die Kinder selbst zum Diebstahl angehalten hat, und die Mutter den Vater wieder durch die Kinder bestehlen ließ. Emilie ist im Ganzen nur 3 Jahre in die Schule gegangen, (…). Seit dem 8ten Jahre musste sie in die Fabrik von H. in Barmen gehen. (…) Dort hörte und sah Emilie viel Böses. (…) kam dann als Magd in einen Dienst zu Abraham Werth auf den Hofkamp. (…) Sie hörte nichts als Fluchen, und fluchte wieder, überhaupt war die Behandlung roh. (…) Nun kam sie wieder nach Elberfeld, blieb zwei Monate im Hause des Vaters, und es fing das alte Lasterleben des Stehlens und Hurens von Neuem an. Weil sie aber den jüngsten Bruder immer schlug, so trieb sie der Vater mit Schlägen aus dem Hause, und so irrte sie 3 Tage und 3 Nächte unter Friren (sic) hin mal umher, oder lag in Scheunen der Bauern…“(Bl. 2-5).

Das Leben von Emilie Kaiser, zur Welt gekommen am 26. Oktober 1828, war kein leichtes. In Armut hineingeboren musste sie bereits als Kind mit anpacken. Harte Arbeit, (häusliche) Gewalt, Diebstahl, Zuchthaus, Prostitution, Obdachlosigkeit, Bettelei und Asylaufenthalte prägten ihr Dasein.

Notizbuch über die Heimbewohnerin des Magdalenenstifts Bethesda in Boppard. Eintrag zu Emilie Kaiser Bl. 2ff, AEKR 5WV 025B – Nr. 38.

1855 kam sie mit 27 Jahren als „gefallene Frau“ nach Boppard in das Magdalenenstift. Hier sollte sie mit Hilfe des christlichen Glaubens wieder auf den rechten Pfad zurück gebracht und hauswirtschaftlich ausgebildet werden. Schließlich sollte sie nach dem Aufenthalt einem „anständigen Berufe“ nachgehen und auf eigenen Beinen stehen können. Zu Emilie Kaiser wurde vermerkt:

Emilie zeigte sich im Verlauf des ersten halben Jahres herrschsüchtig und zanksüchtig gegen ihre Mitzöglinge, jähzornig und ungehobelt in Allem, was sie thut. Sie hieb sich eines Abends mit einem Beil in den Fuß, daß die große Zehe gespalten wurde. Mit der Zeit mußte sie das Zimmer hüten und betrug sich, wenn die Andren zur Arbeit in den Garten gingen, so verkehrt, raisonnirte laut, fluchte, sang wüste Lieder, als wäre der leibhaftige Satanas in sie gefahren….“ (Bl. 6).

Zweimal wurde Emilie Kaiser in Boppard aufgenommen und zweimal aufgrund ihres unkontrollierbaren Charakters entlassen. Schließlich verstarb sie mit gerade 34 Jahren mittellos in einem Armenhaus in Elberfeld.

Notizbuch über die Heimbewohnerin des Magdalenenstifts Bethesda in Boppard, AEKR 5WV 025B – Nr. 38.

Diesen eher sonst unüblichen und doch detailreichen Einblick in den Lebensweg einer Frau aus der sozialen Schicht des Arbeiterproletariats in Deutschland im 19. Jahrhundert ermöglicht das Notizbuch über die Asylistinnen des Magdalenenstifts in Boppard. Dieses ist nun auch auf unserer Homepage als vollständiges Digitalisat verfügbar. Es beinhaltet die Aufzeichnungen über 58 Asylistinnen, deren Lebenswege in 58 mal mehr, mal weniger umfangreichen Kurzviten nachgezeichnet werden. Es scheint aber nicht zu jeder Heimbewohnerin einen Eintrag gegeben zu haben. Eine tabellarische Aufstellung am Ende des Buches (vgl. Bl. 118ff) listet hingegen 97 Eintritte, wobei von mehrfachen Aufnahmen, wie etwa im Fall Emilie Kaiser, auszugehen ist.

Das Notizbuch mit einer Laufzeit von 1856 bis 1870 ist eine wertvolle Ergänzung des Tagebuches der ersten Anstaltsleiterin, Schwester Amalie Göschen (1813-1901). Berichtet das Tagebuch über die alltäglichen Herausforderungen des Heimlebens ausschließlich aus der (wertenden) Perspektive der Heimleiterin, gewähren die Notizen Einsicht in ganz individuelle weibliche Biografien einer pauperisierten Gesellschaftsgruppe, die in der Regel keine oder nur wenige Selbstzeugnisse generierte. Die Frauen kommen in zwischen den Seiten gesteckten Zetteln oder Brieflein tatsächlich sogar selber zu Wort (vgl. Bl. 48f).

Die Einträge sind i.d.R. alle ähnlich aufgebaut und beginnen mit einer Tabelle, die Informationen zu Name, Herkunft, Konfession, Eintrittsdatum und Aufbringung des Kostgeldes liefert. Es scheint jedoch, dass mit den Jahren die Einträge selber kürzer werden. Im Tagebuch schreibt die Heimleiterin davon, dass sich die Mädchen bzw. Frauen sich ihr manchmal anvertrauen und ihre verschiedenen Lebenswege sowie die prekären Umstände, die in diese führten, schildern. So handelt es sich bei den Notizen im Grunde um eine Art „Nacherzählung“ resp. Zusammenfassung aus dem Gedächtnis der Heimleiterin.

Die Aufzeichnungen werden zudem über einen längeren Zeitraum gepflegt. Man ist sogar bemüht, die Lebensstationen der ehemaligen Asylistinnen „nach dem Stift“ festzuhalten. Zum Ende des Notizbuches hin sind alle Ein- und Austritte in Tabellenform nochmals festgehalten worden. Zudem wurde ebenfalls notiert, wer wann starb, wer in Dienst kam, sich verheiratete oder leider nicht mehr auffindbar war (vgl. Bl. 118-137).

Notizbuch über die Heimbewohnerin des Magdalenenstifts Bethesda in
Boppard mit Kurzvita und Daten zur Geburt, Eintritt, Austritt.
AEKR 5WV 025B – Nr. 38.

Der Vergleich der Handschriften sowohl im Tagebuch als auch im Notizbuch deutet darauf hin, dass die Einträge in beiden Heften aus der Feder von Amalie Göschen stammen könnten. Es gibt jedoch auch Indizien, dass die Niederschriften im Notizbuch möglicherweise auch von einer weiteren Person geführt wurden. Im Bericht zu Emilie Kaiser wird festgehalten, dass „die Vorsteherin (…) viel Kummer u. Thränen um sie“ gehabt habe (vgl. Bl. 6). Es scheint unwahrscheinlich, dass Amalie Göschen von sich in der dritten Person schrieb. Im Tagebuch hingegen berichte sie, dass ihre Schwester ihr stets eine große Hilfe gewesen sei. Es ist somit durchaus denkbar, dass beide Frauen abwechselnd das Notizbüchlein zum Zwecke der „Datenerhebung“ führten.

Doch unabhängig davon sind diese Aufzeichnungen eine hochinteressante, faszinierende und wertvolle Quelle zu den Lebensumständen der deutschen Arbeiterklasse. Sie helfen das Bild der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbdingungen der – in diesem Fall – weiblichen Arbeiterschaft des industriellen Deutschlands im 19. Jahrhundert schärfer zu fassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert