Das 1855 im ehemaligen St.-Martins-Kloster in Boppard gegründete Magdalenenasyl, in dessen Räumlichkeiten heute die südrheinische Außenstelle des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland untergebracht ist, war im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der bedeutendsten diakonischen Einrichtungen der südlichen Rheinprovinz. Mit dem Tagebuch der ersten Anstaltsleiterin, Schwester Amalie Göschen (1813-1901), liegt eine einmalige Quelle vor, die tiefe Einblicke sowohl in das alltägliche Leben in der Anstalt wie auch in die Befindlichkeiten ihres Führungspersonals gewährt.
Die Bezeichnung der Anstalt als „Magdalenenasyl“ geht dabei auf den in pietistisch-erwecklichen Kreisen üblichen Brauch zurück, junge Frauen, die der Prostitution anheim zu fallen drohten oder bereits in dieses Gewerbe abgerutscht waren, in Anlehnung an die biblische Maria Magdalena als „Magdalenen“ zu bezeichnen. Einrichtungen wie das Bopparder Magdalenenasyl, das wenige Jahre nach seiner Gründung das neu erbaute Haus „Bethesda“ oberhalb der Bopparder Altstadt bezog und erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder in das Klostergebäude St. Martin zurückkehrte, hatten das Ziel, die „gefallenen Mädchen“ wieder auf den Pfad eines tugendhaften Lebens zurückzuführen. Zu diesem Zweck sollten den Asylistinnen in der Anstalt die bürgerlich-christlichen Wert- und Moralvorstellungen vermittelt und sie zugleich in hauswirtschaftlichen Berufen ausgebildet werden, damit sie einmal eine nach den Maßstäben der Zeit „anständige“ Existenz würden führen können.
Wie groß indes die Kluft zwischen den christlich-erwecklichen Prinzipien der Anstaltsleitung auf der einen Seite und der Lebenswelt der jungen Insassinnen auf der anderen manchmal war, geht eindrücklich aus dem im Archivbestand überlieferten Tagebuch der Gründungsleiterin des Bopparder Magdalenenasyls, Schwester Amalie Göschen (1813-1901), hervor. Amalie Göschen, von Haus aus Kleinkinderlehrerin, hatte sich bereits ab 1843/44 in der diakonischen Betreuung weiblicher Häftlinge im schon früh industrialisierten Elberfeld-Barmener Ballungsgebiet engagiert und dabei die Erfahrung gemacht, dass es vor allem die prekären Lebensumstände waren, die junge Frauen auf die schiefe Bahn brachten. Sie setzte sich deshalb zum Ziel, die Delinquentinnen aus ihrer schädigenden Umgebung herauszulösen und in private Dienstverhältnisse zu vermitteln.
Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgte sie auch, als sie Ende 1855 die Leitung des neu gegründeten Bopparder Magdalenenasysl übernahm. Das Tagebuch, das sie im Auftrag des Verwaltungskomitee der Anstalt zu führen hatte, war über all die Jahre ihr ständiger Begleiter. Vom 21. Dezember 1855 an, dem Tag ihres Einzugs mit den ersten vier Asylistinnen, bis ins Jahr 1892 machte sie sich in unregelmäßigen Abständen Notizen über die jungen Bewohnerinnen der Anstalt. Die Eintragungen sind geprägt von klaren moralischen Werturteilen über den Lebenswandel und das Verhalten der Asylistinnen, zugleich aber auch von einem inneren Ringen angesichts einer diakonischen Aufgabe, deren Erfüllung Amalie Göschen zwar als ihre Christinnenpflicht empfand, mit der sie aber manchmal auch sehr haderte. So ist das Tagebuch der Amalie Göschen eine Quelle ersten Ranges für den Alltag in einem Magdalenenasyl und bietet darüber hinaus als Ego-Dokument faszinierende Einblicke in die Selbstwahrnehmung einer Frau, deren berufliche Laufbahn in vielerlei Hinsicht typisch für die weibliche Diakonie im 19. Jahrhundert war.