Gegen den Kolportageschund!? Protokolle der KreissynodenTeil 3

Die Serie der Onlinestellung der Protokolle der 35 Kirchenkreissynoden im Zeitraum ca. 1850 bis 1933 findet ihren Abschluss. Auf der Homepage des Archivs der EKiR ist jetzt der dritte und letzte Teil der Veröffentlichungen einsehbar. Zum Stöbern, Recherchieren und Download stehen die Digitalisate der Synoden der Kirchenkreise Niederberg, Saarbrücken, Simmern, Sobernheim, Solingen, St. Johann, Trarbach, Trier, St. Wendel, Wesel, Wetzlar und Wied bereit.

Nun mag die Lektüre von Sitzungsniederschriften in den Augen einiger nicht den aufregendsten Lesestoff darstellen. Schließlich geht es in Protokollen vor allem darum möglichst wortgetreu festzuhalten, wer, wann, was, wozu gesagt bzw. getan hat oder was in welcher Reihenfolge beschlossen wurde. Entsprechend lassen vielleicht die Protokolle der Kreissynoden auch nur die Herzen von Kirchenkreisgeschichtsforschern höher schlagen. Doch sind die Berichte der Superintendenten als Quellensatz nicht nur für die Beantwortung von Fragen der Kirchenkreisgeschichtsforschung von Interesse. Sie können sich durchaus auch für benachbarte (geschichts)wissenschaftliche Disziplinen als ein nicht uninteressantes, quellenhistorisches Kleinod erweisen, indem sie Licht auf politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verhältnisse einer Gesellschaft werfen.

Das königliche Konsistorium etwa erließ 1906 folgendes Proponendum an die Kreissynoden: „Die Aufgabe der Gemeindemitglieder und der kirchlichen Organe in Bekämpfung der Unkeuschheit mit besonderer Berücksichtigung der verderblichen Wirkungen der unsittlichen Literatur“. Dieser Aufgabe nahm man sich auch eifrig an, denn es stand außer Frage fest: „Unzucht und Unsittlichkeit haben in unserer Zeit mächtig zugenommen, gewaltig um sich gegriffen und sich mehr als früher in die Oeffentlichkeit gewagt“ (s.u.).

Thesen des Pfarrer Ebelings zum Proponendum des kgl. Konsistoriums, Protokoll der Kreissynode Saarbrücken am 11. Juli 1906, S. 28f.

Die Berichte der Referenden auf den Synoden aus dem Jahr 1906 klagen alle über den Niedergang von Moral, Anstand und Sitte sowohl in der Stadt (z.B. Saarbrücken) als auch auf dem Land (vgl. Wetzlar). Die Ursache dieses Übels war schnell ausgemacht: die Kolportageliteratur! Darunter verstand man den Verkauf leichter Unterhaltungsliteratur in billiger Druckqualität durch Hausierer, sog. Kolporteure, an der Haustüre oder auf dem Hinterhof. Für viele Menschen gerade aus einkommensschwachen Schichten war dies jedoch oft die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen oder überhaupt an bezahlbare Literatur oder Nachrichten heranzukommen.

In den Augen der Gegner leistete der „Kolportageschund“, so die oft schmähende Bezeichnung, Sünde und Verfall Vorschub. Sie förderte auf der einen Seite materialistisches Denken oder die Verbreitung von Perversitäten (wie Pornografie und Homosexualität) und untergrub auf der anderen Seite eine idealistische, christliche Lebenseinstellung. Schlimmer noch war „die physische Gesundheit des Einzelnen wie des Volksganzen ernstlich bedroht“ (s.o. Anlage S. 1). Im erschreckenden Tempo schnellte die Statistik in die Höhe bei der Anzahl von Prostituierten, unehelich geborenen Kindern und Geschlechtskrankheiten. Laut Berliner Krankenkassen, berichtete Pfarrer Ebeling, infizierten sich bereits 24% der Studenten mit Syphilis – „wo allein Studien und frische, frohe, harmlose Burschenlust zu ihrem Rechte kommen sollten…“. (s.o. Anlage, S. 2). Fortschritt in Industrie, Technik und Handel beflügelte regelrecht den Vertrieb dieser schamlosen Heftchen wie z.B. ‚kleines Witzblatt‘, „Simplicissimus‘ und ‚Jugend‘ „im Lande germanischer Keuschheit, deutscher Innerlichkeit, reformatorischen Sittenernstes“ (s.o. Anlage, S. 4).

Pfarrer Ebeling rief daher zum Handeln. Es galt den um sich grassierenden Sitten- und Moralverfall, den Materialismus, die Liederlichkeit und Unzucht, die Genuss-und Trunksucht – in den Augen Ebelings alles Symptome des Realismus – zu bekämpfen. Pfarrer sollten daher in ihren Predigten verstärkt vor allen möglichen Gefahren warnen, Vorträge zur Sittlichkeitsfrage fördern und Besuche und Einzelunterredungen mit den Gemeindemitgliedern anregen. Sie sollten sich auch in der Seelsorge verstärkt obiger Probleme annehmen. Knaben und Mädchen sollten im natürlich geschlechtergetrennten Konfirmandenunterricht über Sünde und Irrwege aufgeklärt werden. Doch auch die Presbyter müssen in die Pflicht genommen werden. Sie müssten als „kirchliche Organe“ tadellose Vorbilder abgeben. Nachdrücklich müsste auch an die Eltern appelliert werden, denn „was Schule und Kirche hier zu bauen suchen, reißt das Haus wieder ein, wenn darin nicht der rechte Geist herrscht“ (s.o. Anlage, S. 22). Seinen Vortrag beendete Pfarrer Ebeling schließlich mit dem Aufruf die schändliche Kolportageliteratur einzusammeln und dem „Bund zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild“ zu senden, ja sich am besten diesem anzuschließen.

Die vom Pfarrer Ebeling so verabscheute Kolportageliteratur ist heute eher durch den Begriff des Groschenromans ersetzt worden. Gewiss hätte es ihn auch tief erschüttert zu erfahren, dass sie zudem Forschungsdesiderat geworden ist. Studierende der Universität Oldenburg und Münster haben sich z.B. in den Sommersemstern 2020 und 2021 mit dieser literarischen Gattung befasst. Ihre Ergebnisse fassten sie in einem Blog zusammen. Wer also mehr zu einzelnen Heftchen erfahren möchte, sollte einen Blick darauf werfen. Zum Link geht es hier.

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