Unter den derzeitigen pandemiebedingten Einschränkungen leiden alle – ganz besonders aber die Karnevalisten, denen in diesen Wochen ein unbeschwertes, fröhliches Treiben kaum möglich ist. Ein Blick in die Geschichte lehrt allerdings, dass Krisenzeiten auch schon in der Vergangenheit ihre Auswirkungen auf den Karneval nicht verfehlt haben. Gerade die evangelische Kirche, die schon in „normalen“ Zeiten dem närrischen Treiben traditionell mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüberstand, war in solchen Situationen ganz besonders darauf bedacht, die in ihren Augen höchst fragwürdigen karnevalistischen Umtriebe möglichst komplett zu unterbinden. Zwei Beispiele – eines aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den späten 1920er Jahren, das andere aus der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg – mögen das verdeutlichen.
Karnevalsbedingter Rücktritt eines rheinischen Gemeindeverordneten
In Pfaffendorf am Rhein amtierte seit 1896 Pfarrer Karl Lohmann. Zeit seines Lebens ein glühender Kämpfer gegen „das auswüchsige Karnevalstreiben“, wie es im Jargon der Zeit hieß, hatte er auf diesem moralischen Feldzug auch seine Presbyter und Gemeindeverordneten fest im Griff. Allerdings nicht ganz uneingeschränkt – denn sie waren schließlich nicht nur gute Protestanten, sondern eben auch Rheinländer. Als Lohmann 1929 durchsetzen wollte, dass sich sämtliche Mitglieder der Gemeindevertretung im Zeichen der Weltwirtschaftskrise ausdrücklich dazu verpflichten sollten, keinerlei Karnevalsveranstaltung zu besuchen, war für den Repräsentanten Paul Strombach – seines Zeichens Regierungs-Inspektor und daher von Amts wegen eigentlich aller Ausschweifung unverdächtig – eine Grenze erreicht. Mit wohlgesetzten, aber nicht minder klaren Worten distanzierte er sich zwar von jeglichem Treiben, das gegen die „guten Sitten“ verstieß, wollte es sich gleichwohl nicht verbieten lassen, anständige Feierlichkeiten weiterhin besuchen zu dürfen – und erklärte deshalb kurzerhand seinen Rücktritt.
Auch der hilflose Rechtfertigungsversuch Lohmanns, er habe die Pflicht zur Karnevalsabstinenz lediglich als seine persönliche Meinung kundgetan, konnte Strombach nicht umstimmen. Pfarrer Lohmann hingegen führte seinen Kreuzzug gegen das verhasste Fastnachtswesen noch drei Jahre unerbittlich weiter, bis zu seinem frühen Tod am 8. Februar 1932 – ausgerechnet am Rosenmontag.
Der mittelhessische Karneval – Bedrohung für Leib, Geist und Seele?
Der zweite Fall führt uns weit weg vom Rhein, nämlich in die gemeinhin nicht als eine Hochburg ausgelassenen Frohsinns bekannte mittelhessische Industriestadt Wetzlar. Wir schreiben das Jahr 1950. Fünf Jahre nach Kriegsende sind die sozialen Folgen der Niederlage – Wohnungsnot, Vertriebenenproblematik, Kriegsgefangenenfrage – wie allerorten auch hier noch sehr präsent, und so war die Sehnsucht der Menschen nach Zerstreuung und Ablenkung vom tristen Nachkriegsalltag entsprechend groß. Aber genau dies war den Kreissynoden Wetzlar und Braunfels offenbar ein Dorn im Auge. Zusammen mit erwecklich geprägten Gemeinschaftskreisen brachten sie eine geharnischte Erklärung gegen den Karneval in Umlauf, in der sie neben den klassischen protestantischen Antifasching-Topoi – sittliche Unzucht, Jugendgefährdung, Gotteslästerung – auch die damals aktuelle „Not der Heimatvertriebenen und Arbeitslosen“ und das Schicksal der „Gefangenen und zu Zwangsarbeit Verurteilten hinter dem Ural“ bemühten – ganz nach dem Motto: Wie könnt ihr bloß feiern, wenn gleichzeitig eure Brüder und Schwestern darben müssen!
Dass man das Spannungsfeld von Heimatvertriebenen, Wohnungsnot und Karneval aber auch ganz anders bewerten konnte – nämlich dezidiert konfessionalistisch und zugleich latent fremdenfeindlich –, machte ein Ergänzungsvorschlag des Dillheimer Pfarrers Heinrich Läufer zu der Erklärung deutlich, der einem noch im Abstand von über 70 Jahren die Haare zu Berge stehen lässt. Unter Anspielung auf die mehrheitlich aus dem katholischen Sudetenland stammenden und daher dem Karneval alles andere als abgeneigten Heimatvertriebenen tat Läufer kund: „Es ist eins zu bedenken: Die unter Nr. 4 von uns so fürsorglich Bedachten Heimatvertriebenen etc. machen [beim Karneval, A.M.] am allermeisten mit – incl. kathol. Amtsbrüder! – und haben damit unsere alte Haltung im Kreise Wetzlar gründlich verdorben. Diese wollen beides: Karneval und Häuser – die letzteren am liebsten auf unsere Kosten!“
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