150 Jahre Reichsgründung oder „…siehe was der Herr an uns gethan…“

Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) – AEKR 8SL 046, D. Julius Disselhoff, Kaiserbüchlein oder Kaiser Wilhelms Lehr- und Meisterjahre, 4. Aufl., Kaiserswerth ca. 1890.

Heute vor genau 150 Jahren wurde 1871 im Spiegelsaal von Versailles – dem Herzen Frankreichs – das Deutsche Kaiserreich ausgerufen. Der preußische König Wilhelm I. wurde zum deutschen Kaiser proklamiert und die Deutsche Einheit begründet.
Der 18. Januar avancierte damit zu einem geschichtsträchtigen Datum, welches besonders in der Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts positiv konnotiert war. Damalige Historiker sahen „den 1871 gegründeten, von Preußen dominierten Nationalstaat als den natürlichen, unvermeidlichen und bestmöglichen Endpunkt der historischen Entwicklung Deutschlands seit der Reformation“ (Clark, Christopher: Preußen, 20083, S.10). Ähnlich dachte und fühlte wohl die deutsche Bevölkerung. Ganz euphorisch von raschen Feldsiegen und Staatswerdung störte es sie nicht, dass die Geburt des Nationalstaates „von oben“ inszeniert wurde oder dass in Versailles gewählte Volksvertreter fehlten.

Einblicke in die Stimmungslage im Rheinland, namentlich seitens kirchlicher Vertreter, gewähren die Protokolle der Kreissynoden des Jahres 1871, die im Rahmen der Dankgottesdienste am 18. Juni 1871 gehaltenen Predigten oder Feldpredigten aus dem deutsch-französischen Feldzug.

Protokolle der Kreissynoden 1871 – AEKR Düsseldorf

So beginnen viele Superintendenten ihre Jahresberichte auf den Kreissynoden mit einem Rückgriff auf die jüngsten kriegerischen und politischen Ereignisse. Exemplarisch sei der Superintendent Pfarrer Roffhack erwähnt, der sich auf der Kreissynode Düsseldorf am 29. Juni dahingehend dankbar zeigte: „daß die verschiedenen Stämme des deutschen Volkes nunmehr zu einem Reiche vereinigt sind und die Kaiserkrone mit jauchzender Zustimmung der deutschen Fürsten und Völker unserm theuern Könige zugefallen ist“.
Superintendent Pfarrer Usener von Obercleen etwa wagt auf der Kreissynode in Wetzler am 21. Juni sogar eine Zukunftsprognose: „Deutschland dagegen, welches seither im Ausland durch seine Zerrissenheit wenig geachtet und noch weniger gefürchtet war, hat in Folge des Krieges sich zu einem großen und mächtigen Reiche erhoben, und unser König, welchen man erniedrigen wollte, ist als Kaiser an die Spitze dieses Reiches getreten und mit neuer Ehre gekrönt worden. Unter seiner Leitung wird, wenn Gott ferner Gnade gibt, Deutschland seine Mission, eine Leuchte unter den Völkern zu werden, erfüllen“.

AEKR – GH 27/1
AEKR – GH 17/1

Die gehaltenen Predigten, sei es auf dem Schlachtfelde oder am Siegesdankfeste, zeugen von einer weit geteilten Einmütigkeit über Beginn, Verlauf und Ende des Krieges. Frankreich wird dezidiert als Initiator und Kriegstreiber identifiziert. Pfarrer Haastert hält fest: „Plötzlich, wie in der Hitze des Sommers sich der Himmel umwölkt und Blitze verderbenbringend niederzucken, so erhob sich von Westen her das drohende Kriegsgewölk. Frankreichs Kaiser und Frankreichs Volk – ein trauriger Kaiser ein traurig Volk, jener geblendet von seinen Räthen, dieses von dem von seinen Vätern ererbten Ruhme – warfen in frechem Uebermuthe unserm Fürsten und Volke den Fehdehandschuh hin“ (S. 6).

Dr. Carl August Wortmann, Pfarrer zu Ruhrort, sieht den Krieg als göttliche Strafe Frankreichs: „Er, der Herr, der nach den Worten unseres Textes in aller Welt richtet, wollte sich endlich über das gottlose Franzosenthum zu Gericht setzen, einen Akt richterlicher Gerechtigkeit an ihm üben und unser Volk zur Ruthe seines Zornes, zum Stecken seines Grimmes bei solchem gebrauchen“ (S. 8).

Einstimmig wird der Krieg für Deutschland als Verteidigungskrieg erklärt: „Es ist eine gerechte Sache, denn es ist ja ein Vertheidigungskrieg gegen den schnödesten, unverdientesten und ungerechtigsten Angriff unseres unruhigen Nachbarn, den wir führen. Deutschlands Volk und Deutschlands Fürsten begehrten mit Niemanden Streit, sondern mit Allen Frieden. Aber es kann der Beste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Der Krieg ist uns aufgezwungen worden zu Wahrung von Deutschlands Selbständigkeit und politischer Machtstellung, zur Rettung von Preußens Ehre und Errungenschaften“ (Feldpredigt Huyssen ‚Von der rechten Siegesfreude des Christen‘ bei Metz am 4. Sept. 1870, S. 5).

Ein solches Stimmungsbild mutet befremdlich an und ist schwerlich nachzuvollziehen, zumal das Bild von Preußen heute überwiegend negativ behaftet ist. Aus diesem Grund muss die damalige Gesinnung, wie sie in den Predigten und Protokollen zu Tage tritt, in ihrem zeitlichen Kontext betrachtet werden. Die dargebrachten Einstellungen sind nur vor dem Hintergrund einer im 19. Jahrhundert aufkommenden Kriegstheologie zu verstehen, die den damaligen Zeitgeist widerspiegelt. Festgehalten werden kann dieser Prozess etwa daran, dass sich die Theologen von Luthers Zwei-Reich-Lehre abwenden und sich in ihren Predigten politischen Themen und Ereignissen hinwenden. Diese werden religiös gedeutet, jedoch nicht politisch analysiert. Hinzukommt, dass Krisen wie Kriege bei Menschen tiefe Verunsicherungen und Ängste hervorrufen. Fragen nach einem Sinn im Leben werden dadurch aktuell. Kirchliche Würdenträger, die ihre Kirche dann in einem solchen Moment als Volkskirche verstehen, sind durchaus versucht, in solch gearteten Predigten sinngebende Antworten auf Fragen der Bevölkerung zu geben. Die Problematik liegt darin, dass die Kirche damit freiwillig zur Erfüllungsgehilfin der Politik wurde und die Grundlagen ihrer reformatorischen Theologie aufgab.

Für am Thema Kriegstheologie Interessierte, u.a. mit Blick auf das Rheinland, sei an dieser Stelle abschließend auf einen Artikel von Jörg van Norden „Krieg als Evangelium. Die Rezeption der Einigungskriege der evangelischen Kirche im Rheinland und in Westfalen 1864 bis 1872“ von 2003 in den Monatsheften für Ev. Kirchengeschichte des Rheinlandes hingewiesen.

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