Wir kennen die Diskussionen in Kommunalpolitik, Gewerkschaften und Kirchen um die mögliche Öffnung des Einzelhandels an bestimmten Sonntagen. Die Sonntage unterliegen einem besonderen Schutz, der im Sonn- und Feiertagsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen geregelt ist. Arbeitsverbote dienen dem Schutz der Sonntagsruhe und der Erholung, Veranstaltungsverbote sollen die Gottesdienste schützen.
Dass es in den ersten Jahrzehnten der Ausbreitung der Eisenbahnen Diskussionen darüber gegeben hat, ob der Eisenbahnverkehr an Sonntagen zur Sonntagsentheiligung beiträgt, hatte ich noch nicht gehört. Durch Zufall stieß ich jetzt auf den Artikel „Die Eisenbahnen und der Sonntag.“ Der Beitrag aus der „Neue Evangelische Kirchenzeitung“ wurde in der Zeitschrift „Der Säemann. Eine Wochenschrift für Mission in der Heimath und häusliche Erbauung“, Heft 8, 1869, abgedruckt. Diese Zeitschrift wurde vom Evangelischen Brüderverein in Elberfeld herausgegeben.
Die begonnene Industrialisierung hatte bereits zu Umbrüchen geführt, die besonders in den wachsenden Städten zu spüren waren. Der unbekannte Autor schreibt, „den ernsten Geistern unserer Zeit“ sei klar geworden, „daß die Wiederherstellung der Sonntagsruhe und Sonntagsheiligung eine der nothwendigsten Maßregeln ist, um die bösen Geister socialer Verwirrung und religiöser Verirrung zu bannen und zu beschwören.“ Der Eisenbahnverkehr käme bei dieser Frage besonders in Betracht; die Eisenbahnarbeit trage durch die Massenhaftigkeit und die Regelmäßigkeit in großem Maße zur Sonntagsentheiligung bei. Man frage sich vergeblich, warum jede kleine Sonntagsarbeit bestraft werde, die Eisenbahnen jedoch durch den Staat privilegiert seien – jetzt wird es geradezu poetisch -, „an Sonn- und Festtagen die alte Gottesordnung unter den Rädern ihrer Wagen zu vernichten und mit dem Pfeifen ihrer Lokomotiven zu übertönen.“
Der ungehemmte Eisenbahnverkehr sei gar nicht notwendig, wie die Beispiele aus England und Amerika zeigten. Eine Umfrage des New-Yorker Sonntags-Comités bei den Eisenbahngesellschaften habe ergeben, dass 65 Gesellschaften an Sonntagen gar nicht führen, 59 Gesellschaften ließen ihre Züge fahren, aber weniger als an Werktagen. Es arbeiteten dadurch aber 30.000 Menschen an Sonntagen. In Deutschland jedoch „müssen die Extrazüge die Fahrpläne der Wochentage noch überbieten; und die Güterzüge gehen meist mit derselben Regelmäßigkeit in der Woche und am Sonntag.“
Eine zweite Frage richtete sich nach dem Nutzen der Sonntagszüge. Die meisten Gesellschaften hätten „mit einem absoluten Nein“ geantwortet. „Sonntagsarbeit nützt Niemand, weder Einzelnen, noch Corporationen.“ Einige Äußerungen nannten religöse und sittliche Motive zur Ablehnung der Sonntagsfahrten, andere versprachen die Einschränkung der Sonntagsarbeit. Der Autor fragt sich, wie die Antworten auf eine solche Umfrage „bei uns“ aussähen: „Kühl abweisend, vielleicht geschäftsmäßig bedauernd.“ Aber es müsse auch anders gehen. Schon bemächtige sich die sociale Revolution der Sonntagsfrage; die „guten Elemente der Gesellschaft [müssten] sich zusammenfinden, um das dritte Gebot, diese magna charta der Arbeit und der Arbeiter, wieder zu Ehren zu bringen.“
Bei einer kurzen Internetrecherche fand ich einen weiteren Artikel, der sich zu diesem Thema äußert: C. A. Distelbarth, Diakonus in Metzingen in Württemberg, zitiert in seinem Beitrag „Die evangelische Alliance nach englischen und französischen Berichten“ in der „Zeitschrift für die historische Theologie“, Band 28, Neue Folge 22, 1858, auf den Seiten 32-35 den Bericht des Pfarrers Jordan aus Enstone, Grafschaft Oxford, „Ueber die „Sonntags-Entweihung in Großbritannien.“ Vorherrschende Ursachen für die Sonntags-Entweihung seien der Handel mit geistigen Getränken, der regelmäßige Eisenbahnverkehr und der zunehmende Briefverkehr de Regierung. Auch Jordan fragt, warum es Eisenbahngesellschaftern erlaubt sei, an Sonntagen arbeiten zulassen. Es gäbe Gesellschaften ohne Sonntagszüge, aber nach den Fahrplänen gingen „wenigstens 1350 größere und kleinere Züge“ ab. Nach Polizei- und Presseberichten gingen weit mehr Züge aus London ab, als in den Registern verzeichnet. „So schweigen diese Register ganz von den ins ungeheure sich mehrenden Vergnügungs-Fahrten, welche am Sonntage von London nach Bath, Bristol, Brighton und andern Städten gemacht werden.“ Das führe zu großen Gewinnen der Gesellschaften, während die Moralität und Religion des Landes untergraben werde. So sei eine „Sechs-Tage-Bill“ notwendig, um die Freiheit der Eisenbahnarbeiter zu wahren.