Pergamentrecycling im Stiftsarchiv St. Goar

Das Stift St. Goar verfügte offenbar einst über eine gut sortierte Bibliothek mittelalterlicher lateinischer Handschriften. Vermuten lässt dies die Verwendung einzelner Buchseiten aus Pergament zum Einbinden von Rechnungen des Stifts und des Hospitals aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die im Stiftsarchiv überdauert haben. Mit Einführung der Reformation in der Niedergrafschaft Katzenelnbogen 1527/28, dem Erlöschen der Klerikergemeinschaft von „Sanct Gewere“ wenige Jahrzehnte später und der gleichzeitigen Entwicklung des Buchdrucks hatten die Handschriften ihre Funktion verloren. Nun ist die Verwendung von Pergamentmakulatur an sich nichts Ungewöhnliches, dennoch finden sich in dem Bestand einige besonders schöne Beispiele, die vorzustellen sich lohnt.

In Pergamentmakulatur eingebundene Rechnungsbücher; aus Bestand: AEKR Boppard 5WV 021B (Stift St. Goar)

Auffallend ist die durchgängig sorgfältige Verarbeitung des Pergaments: Die Einbände sind sauber zugeschnitten und vernäht bzw. verklebt, teils mit Verschlussbändern versehen. Die Schriftarten der einzelnen Seiten variieren, zum Teil wurde sogar noch die karolingische Minuskel verwendet, überwiegend sind die Texte allerdings in gotischer Minuskel verfasst. Die Herkunft der Seiten lässt sich in den meisten Fällen nicht auf Anhieb identifizieren, es handelt sich aber – wie zu erwarten – durchweg um theologische Abhandlungen. An ihrer Hufnagelnotation leicht zu erkennen sind die liturgischen Fragmente. So wurde der Einband der Rechnungen des Jahres 1643 ganz offensichtlich einem Messbuch entnommen, denn die Vorderseite zeigt einen Teil des in der Weihnachtszeit verlesenen Stammbaums Jesu nach Matthäus 1, 9-16 aus der Vulgata („Ozias autem genuit Joatham. Joatham autem genuit Achaz. Achaz autem genuit Ezechiam. Ezechias autem genuit Manassen. Manasses autem genuit Amon“ usw.), während auf der Rückseite die letzten Worte des in der Osternacht gesungenen Exsultet („…inquam, lucifer, qui nescit occasum, ille qui regressus ab inferis, humano generi serenus illuxit.“) mit abschließender Fürbitte zu lesen sind.

Auch die Rechnungen von 1679 sind in die Seite einer liturgischen Handschrift eingebunden, denn auf der Vorderseite ist ein ebenfalls der Vulgata entstammender Teil von Psalm 62 zu erkennen („Deus Deus meus ad te de luce vigilo sitivit in te anima mea quam multipliciter tibi caro mea / in terra deserta et invia et inaquosa sic in sancto apparui tibi ut viderem virtutem tuam et gloriam tuam“ usw.), auf der Rückseite findet sich auch hier eine Hufnagelnotation.

aus Bestand: AEKR Boppard 5WV 021B, Nr. 26 (10)

Dass die Handschriften in ihrem Urzustand rege gebraucht wurden, zeigt etwa das die Rechnungen von 1666 umhüllende Fragment: Von den zahlreichen Randnotizen, die ein unbekannter Leser in dem Buch hinterlies, mag auch ein mittelalterlicher Bibliothekar nicht begeistert gewesen sein. Beeindruckend sind hier auch die bis heute kräftig leuchtenden Farben der filigranen Initialen und Verzierungen.

aus Bestand: AEKR Boppard 5WV 021B, Nr. 26 (9)

Die Nachhaltigkeit früherer Jahrhunderte hat also so manche, meist bislang unbekannte oder verloren geglaubte Handschrift oder Urkunde zumindest fragmentarisch erhalten. Vielleicht schlummert ja auch im Stiftarchiv von St. Goar noch die ein oder andere Überraschung. Der Bestand 5WV 021B wird bei der Evangelischen Archivstelle Boppard aufbewahrt.

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