„Das Aktenstück Studienfahrt schwoll an…“

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Studienfahrt des Predigerseminars Wittenberg 1954

„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen!“ Und dies tut Paul Wätzel, Studiendirektor und Ephorus des Evangelischen Predigerseminars Wittenberg, denn auch sehr ausführlich. Auf 48 Schreibmaschinenseiten, garniert mit einigen aufgeklebten Schwarz-Weiß-Bildern, schildert er die Studienfahrt des Wittenberger Predigerseminars vom 29. März bis 11. April 1954 in den Westen.

 

Grenzübergang Marienborn

Grenzübergang Marienborn

Der Anfang war nervenzehrend. Bis wenige Tage vor der geplanten Abreise stand Alles auf der Kippe. Erst nach langwierigen Verhandlungen mit dem Staatssekretariat für Kraftverkehr in Berlin-Ost/DDR erhielt Wätzel mündlich die Fahrgenehmigung, und zwei Tage vor der Abfahrt traf dann auch die schriftliche Zusage ein. Am Montag, 29. März, hieß es: „3.45 Aufstehen und Bohnenkaffeeempfang, der uns bis 10.00 Uhr abends wachhalten sollte, da wir am ersten Tage über die Stationen Hildesheim und Hannover bis Loccum kommen wollten.“ Mit der „Heiderose“, einem Omnibus mit Anhänger für Koffer und Treibstoff, passierten sie um 9.00 Uhr den Grenzübergang auf der Autobahn bei Marienborn. „Als sich nach einstündiger Kontrolle die Schlagbäume hinter uns senkten, erreichten wir den ersten Stimmungshöhepunkt“.

Nach der Grubenfahrt

Nach der Grubenfahrt

Sie besuchten Hildesheim („Trümmerfeld von Sandsteinblöcken der im Wiederaufbau befindlichen Michaelskirche“), Hannover („geblendet von der Leuchtreklame“), Akademie Loccum („vor Müdigkeit schwankende Gestalten“), Herford („Dankbar nehmen wir das Taschengeld in Empfang“), Ravensberger Land („Liebe zur Mission“), Espelkamp („mitten im Walde eine Stadt“), Dortmund („Grubenfahrt! Eine Männersache, den Damen wurde Spaziergang verordnet!“), Studienwerk Villigst („Apfelsinen-Betthupferl“), Kirchliche Hochschule Wuppertal („Wallfahrt zu den Trümmern des Gebäudes, in dem vor 20 Jahren die Barmer Theologische Erklärung verlesen und angenommen wurde“), Essen („Uns fiel auf, dass selbst die großen Industriestädte, die wir uns verräuchert und verqualmt vorgestellt hatten, recht aufgelockert gebaut sind.“), Zeche Mathias-Stinnes III („Dem Volk muss die Religion erhalten bleiben!“), Ruhrgas A.G. („nur alle drei Wochen einen freien Sonntag“), Neandertal („herzliche Freude, die Heimat der Urahnen sehen zu können“), Köln („mit echt ‚köllschen‘ Witzen begrüßt“), NWDR („Die technischen  Raffinessen des Hauses ließen uns von einem Staunen ins andere fallen“), Kinderdorf Stephansheide („Kinder in fröhlicher Unbekümmertheit“) und Maria Laach („Ich-DU-Beziehung des Menschen zu Gott“).

Kapelle in Stephnasheide / Kinderdorf Besuch des Predigerseminars Wittenberg 29.03.-11.04.1954 Bestand: Handakten Heinrich Held, Signatur: 6HA006, Nr. 155

Kapelle in Stephnasheide / Kinderdorf, Besuch des Predigerseminars Wittenberg, 29.03.-11.04.1954, Bestand: Handakten Heinrich Held, Signatur: 6HA006, Nr. 155

Die Rückfahrt am 11. April 1954 gestaltete sich entspannter: „Im Sonntagsmorgengottesdienst hörten wir eine Predigt von Herrn Studiendirektor Heintze über Klagelieder 1, um dann in Richtung Grenze zu starten. Wir passierten sie, ohne Klagelieder anzustimmen… Gegen 15.00 Uhr grüßte uns der Turm der Schlosskirche, und eine zünftige Nudelsuppe von der Köchin gab uns die tröstliche Gewissheit: ‚Mer sind wieder darheeme!‘“

Paul Wätzel zog Bilanz. Nach der Studienreise durch den Westen stand für ihn fest, dass der Themenkomplex Kirche und Öffentlichkeit die stärksten Unterschiede zwischen Ost und West markiert. Drei miteinander verknüpfte Motive bestimmten im Westen die Arbeit der Kirche in der Öffentlichkeit: 1. Die Nachkriegsnöte, 2. Die Gelegenheit, das öffentliche Leben zu beeinflussen, und 3. Die Gelegenheit, das Evangelium in der Öffentlichkeit auszurichten, ohne sich der heutigen Propagandamethoden und –tricks zu bedienen. Angesichts der, wie es ihm schien, weithin recht harmonischen Zusammenarbeit von westlichen Staat und Kirche drängte sich ihm die Frage auf: „Wo ist bei dem Dienst der Kirche an der Öffentlichkeit eigentlich etwas sichtbar von dem Skandalon des Evangeliums?“

Bestand: AEKR Düsseldorf 6HA 006, (Handakten Präses Heinrich Held), 155.

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