Der Zeitschriftenbeobachtungsdienst der Evangelischen Kirche im Rheinland: Kein Ruhmesblatt der Pressegeschichte

Der rasch expandierende Zeitschriftenmarkt der Fünfzigerjahre veranlasste die rheinische Kirchenleitung 1956 zur Gründung eines eigenen Zeitschriftenbeobachtungsdienstes. Argumentiert wurde mit dem Wächterdienst von Kirche, der ihrem Öffentlichkeitsauftrag entspringe. „In Sorge über den Tiefstand“ der Illustrierten und der Wochenendpresse sollten fortan ca. 30 ehrenamtliche Mitarbeitende die Zeitschriften regelmäßig bewerten. Die Beurteilungsergebnisse, die von „tragbar“ bis „für alle abzulehnen“ reichten, konnten von Pfarrern und kirchlichen Dienststellen bezogen werden.

Verkauf verschiedener Zeitungen am Kiosk, aus Bestand: 8SL 071 (Fotosammlung Lachmann), Schachtel Zeitungen;

Zum Geschäftsführer wurde Friedrich Wilhelm Nerlich (1902-1974) berufen. Dieser Personalentscheidung kann man zumindest die Originalität nicht absprechen, hatte doch der damalige Pastor Nerlich schon seit 1930 als rühriger Amtswalter z.b.V. (konkret: Blockwart) der NSDAP in Wetzlar gewirkt. Eine weitere Parteifunktion bildete die Leitung des Sozialamtes eines Unterbanns der HJ. Die Rechte des geistlichen Standes hatte er freilich 1935 verloren, als er wegen Sittlichkeitsdelikten gegenüber Jugendlichen zu einer 18-monatigen Haftstrafe verurteilt worden war.

Zeitungsausträgerin der Sonntagszeitung „Der WEG“ Evangelisches Sonntagsblatt für das Rheinland, aus Bestand: 8SL 071 (Fotosammlung Lachmann), Schachtel Zeitungen;

Nach dem Krieg gelang es Nerlich als Pressereferent beim neugegründeten Hilfswerk unterzukommen. Seine unzweifelhafte Intelligenz und Einsatzfreude rehabilitierten ihn aus Sicht der Kirchenleitung zwar nicht mehr für den Gemeindedienst, wohl aber für den Pressebereich. Die publizierten Arbeitsberichte seines Dienstes stießen freilich umgehend auf die Kritik sachkundiger Medienexperten des Evangelischen Pressedienstes in Bethel sowie des württembergischen Pfarrers Eberhard Stammler, der als kirchlicher Vertreter in der „Selbstkontrolle der Illustrierten“ tätig war. Das Stakkato von Adjektiven wie sentimental, oberflächlich, demoralisierend, platt, geschmacklos oder widerwärtig verriet mehr über die „restaurative Geschmacksdiktatur“ (Stammler) der Beurteilenden als über die Lebenswirklichkeit der deutschen Gesellschaft. „Unterhaltendes ist unerwünscht“, dieser Artikel der ZEIT aus dem Jahr 1963 bringt die Doppelmoral des Nerlich-Kreises auf den Punkt. Ende 1970 wurde der mittlerweile gänzlich aus der Zeit gefallene Zeitschriftenbeobachtungsdienst von der Kirchenleitung offiziell eingestellt.

Das umfängliche Quellenmaterial zum Zeitschriftenbeobachtungsdienst mit allen Sitzungsprotokollen befindet sich in unserem Bestand Sachakten LKA (Az. 13-19-24). Der Dienst wird auch thematisiert in einem Kapitel in Uwe Kaminskys Geschichte der rheinischen Kirche 1948-1989 .

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