Wo die Geschichte Zukunft macht

Mein Praktikum im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland

Die Gegenwart kann nie losgelöst von ihrer Vergangenheit beurteilt werden. So wäre die derzeitige Krise der EU, die sich im Brexit der vergangenen Woche erschreckend deutlich manifestierte, wohl keine “Krise” ohne das Wissen um die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration. Aber auch die Brexit-Befürworter argumentierten mit vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten, als Großbritannien noch nicht unter der Knechtschaft Brüssels gestanden habe. Die Beurteilung des Ist-Zustandes einer Gesellschaft wird so häufig zu einem Streit um deren Vergangenheit. Umso wichtiger ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte (die heute mehr denn je eine Geschichte des Globalen ist). Welche essentielle Rolle Archive in diesem Prozess spielen, bleibt der breiten Öffentlichkeit (und manchmal leider auch den politischen Entscheidungsträgern, die entsprechende Finanzmittel bewilligen) dabei häufig verborgen.

Während meiner Promotion in der Geschichtswissenschaft habe ich verschiedene große und kleine, private, kirchliche und staatliche Archive bereits als Benutzerin kennengelernt. Ob der Archivdienst auch eine berufliche Perspektive für mich darstellt, wollte ich in den vergangenen vier Wochen bei einem Praktikum im Archiv der Evangelischen Kirche des Rheinlandes näher erkunden.

Auf der “anderen” Seite zu sitzen und damit das rein wissenschaftliche Interesse an den Quellen mit Fragen der Klassifizierung, Präservierung und des möglichst benutzerfreundlichen Zugänglichmachens von Quellen zu tauschen, war eine spannende Erfahrung. Ich ordnete zunächst den Handaktenbestand eines Pfarrers, der Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre für die rheinischen Theologiestudenten zuständig war. Diese auch für das Theologiestudium enorme Umbruchszeit trat mir in den Akten immer wieder plastisch vor Augen und ich musste mich manchmal zwingen, mich nicht ganz und gar festzulesen. Am Ende standen jedoch sechs frisch sortierte Kartons auf meinem Arbeitstisch und dazu ein Findbuch, das meinen Ansprüchen als Benutzerin genügt hätte – ein befriedigendes Gefühl.

Neben dieser Kernaufgabe erhielt ich Einblicke in die verschiedensten Arbeitsfelder des Archivdienstes: neue Aktenzugänge bewerten, Digitalisierung von Fotografien, handschriftliche Einträge aus alten Kirchenbüchern entziffern und die vielfältigen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit. Dabei schwebt heute über jedem Archiv die Mammutaufgabe der Digitalisierung von (Teil)beständen und die Einbindung in regionale und überregionale Portale, die Informationen und Archivgut zugänglich machen. Erschreckend war wiederum die Erkenntnis, wie viel an wichtigen Zeugnissen unserer Zeit durch die digitale Revolution für die Nachwelt verloren gehen wird. Man denke nur daran, dass der Präses der evangelischen Kirche des Rheinlandes wie auch die deutsche Bundeskanzlerin wichtige Korrespondenz über Email und SMS führt und es zweifelhaft erscheint, ob die Social Media Einträge von heute in etlichen Jahren noch abgerufen werden können. Was aus Konrad Adenauers Zeit als Brief oder Telegram in den Aktenbeständen zugänglich ist, wird dem Historiker, der Angela Merkels Kanzlerschaft in 50 Jahren untersuchen möchte, eventuell nicht zur Verfügung stehen. Auf diesem Gebiet steckt die Archivierung erst in den Kinderschuhen – eine gewaltige Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte.

Die vergangenen vier Wochen waren eine sehr interessante Zeit, in der ich viel gelernt und einen guten Einblick in die Archivwelt erhalten habe. Von der ausgezeichneten Betreuung und der angenehmen Atmosphäre unter den Mitarbeitenden war ich positiv überrascht und kann auch in dieser Hinsicht ein Praktikum im Archiv der Evangelischen Kirche des Rheinlandes nur empfehlen. Selbst wenn ich längerfristig nicht im Archivdienst bleiben sollte, hat mir dieses Praktikum die unermessliche Bedeutung von Archiven und eines gut geschulten und engagierten Archivpersonals einmal mehr vor Augen geführt – denn hier wird die Vergangenheit für die Debatten der Zukunft bewahrt.

Maria Schubert, M.A.

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