Bereits im Mittelalter, als der Großteil der Bevölkerung keine Uhr besaß, war die Kirchturmuhr die einzige Möglichkeit die Uhrzeit zu erfahren. Neben dem Stundenschlag wurde auch zu Alarmfällen und Bränden geläutet (weltliches Geläut). Traditionell läuten Kirchenglocken zum Gottesdienst, Gebet sowie Anlässen wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen (sakrales Geläut). Wer heute in seiner Kirchengemeinde noch im Besitz einer Kirchenglocke aus dem Mittelalter ist, der weiß sie hoffentlich sehr zu schätzen.
Denn oftmals wurden Kirchenglocken zwecks kriegerischer Auseinandersetzungen einer „Verwandlung“ unterzogen. So wie die Glocken der Marienkirche zu Berlin, die auf Befehl des Kurfürsten Friedrich I. von Brandenburg (reg. 1417-1440) zu „püchsen“ (=Büchse/Handfeuerwaffe) verarbeitet wurden.
Auch in den beiden Weltkriegen wurden Bronzeglocken im Interesse der Kriegswirtschaft durch die Militärbehörden in Beschlag genommen und für Rüstungszwecke eingeschmolzen. (Kirchliches Amtsblatt, Nr. 6 1917)
Unter dem Gesichtspunkt der Denkmalwürdigkeit wurde im Ersten Weltkrieg eine Klassierung nach wissenschaftlichem und kunsthistorischem Wert durchgeführt:
- Gruppe A: nach 1860 gegossen, zur Abgabe bestimmt
- Gruppe B: vor 1860 gegossen, vorläufig schützenswert
- Gruppe C: vor 1860 gegossen + dauernd schützenswert
Fortgesetzt hat sich dasselbe Verfahren auch im Zweiten Weltkrieg – nur mit scharfen und drastischen Maßnahmen. Anordnung Hermann Göring: Kirchliches Amtsblatt Nr. 7 1940)
Die Glockenbestände wurden in vier Bereiche untergliedert, inventarisiert und zur unverzüglichen Abgabe bestimmt (Klaus Schulte):
- Gruppe A: sofort zur Verhüttung kommende
- Gruppe B: einstweilen im Sammellager zurückzustellende
- Gruppe C: noch weiter im Sammellager zurückzustellende
- Gruppe D: dauernd an Ort und Stelle zu erhaltende Glocken.
Tatsächlich sah es in der Praxis jedoch anders aus. Zur Gruppe A wurden alle Glocken nach 1800 sowie auch viele aus dem 16. bis 18. Jahrhundert gerechnet. Ferner sogar auch einige mittelalterliche Glocken.
Insgesamt wird der Verlust der Kirchenglocken für Deutschland auf 44 % im Ersten und auf 77% im Zweiten Weltkrieg beziffert (Denkschrift ARG). Dagegen sind vor der Vernichtungsaktion rund 14 000 Glocken in den Sammellagern verschont geblieben, die in die Heimatgemeinden zurückgeführt werden mussten. In diesem Zusammenhang ist nach Kriegsende das Deutsche Glockenarchiv (jetzt Germanische Nationalmuseum) entstanden, dass in Zusammenarbeit mit dem „Ausschuss für die Rückführung der Glocken (ARG) e.V.“ sich dieser Mamutaufgabe widmete. Interessant wäre an dieser Stelle zu erfahren, wo die historisch wertvollen Kirchenglocken noch erhalten geblieben und ob sie heute noch intakt sind.
Weitere Quellen zur Erfassung, Abgabe und Rückführung der Kirchenglocken bei uns im Bestand: AEKR Düsseldorf 1 OB 002 (Rhein. Konsistorium)
Ein Pendant zu unseren Glocken-Akten bietet das WDR-Archiv in Köln. Hier werden seit über 50 Jahren Glockenaufnahmen von allen Kirchen in NRW archiviert, die im christlichen Hörfunkgottesdienst übertragen wurden. Seit dem 1.1.2016 läutet die Sammlung „Glockenpforte“ online und ist für jeden frei zugänglich. Die Aufnahmen sind nach Stadtnamen Alphabetisch gelistet und können angehört bzw. als MP3-Dateien gespeichert werden.
Mitmachaktion: der WDR sucht nach weiteren Bildern der Kirchen, Erläuterungen und Informationen. Machen Sie ein tolles Bild von Ihrer Kirche und senden Sie es mit einem kurzen Text per E-Mail an glockenpforte@wdr.de.
Eine Aktion bei der jeder mitwirken kann.
Weitere Informationen auch hier >> Internetseite „Deutsches Glockenmuseum e.V.“
Literatur: „Das Schicksal der deutschen Kirchenglocken“ – Denkschrift über den Glockenverlust im Kriege und die Heimkehr der geretteten Kirchenglocken, Hrsg. vom Ausschuss für die Rückführung der Glocken, Hannover 1952; und Klaus Schulte „Zum Schicksal denkmalwerter deutscher Kirchenglocken: Ablieferung – Vernichtung – Rückführung – Verluste nach 1945“.
Interessant ist im Zusammenhang der Rückführung der in den Sammellagern erhaltenen Kirchenglocken aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, dass diese zumindest teilweise in „Gastkirchen“ in der Bundesrepublik aufgehängt worden sind.
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Danke für diesen Artikel. Er führt vor Augen, dass die Bronzestücke unserer Glocken vielleicht auch schon als Geschütze oder Geschosse dienen mussten. Krieg hat eine unerträgliche Dimension und die Menschenopfer stehen im Vordergrund aller Betrachtung. Jedoch wird daneben die Zerstörung des Kulturgutes betrieben und man beraubt Völker ihrer Geschichte. Bis in die heutigen Tage greift diese grausame Hand weltweit auch nach den Kunstschätzen. Es wäre mein größter Wunsch, dass folgende Generationen den Wert des Friedens dauerhaft erkennen und es gelingt, die menschliche Denk- und Lebensweise so zu ändern, dass Krieg, Flucht, Vertreibung und Zerstörung für immer ein Ende finden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich wurde auf den „Glockenfriedhof in Hamburg“ aufmerksam, von dem aus die in den Kriegen ausgebauten Glocken an ihre Gemeinden zurückgeführt wurden.
Nun wohnen wir in Sachsen-Anhalt, wohin nach dem Kriege, die Glocken nicht zurückgeführt wurden.
Besteht diese Möglichkeit der Rückführung heute noch?
Ich wäre Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar!
Vielen Dank, mit freundlichen Grüßen
Klaus Wrackmeyer
Kreuerplatz 44a, 38835 Berße, T. 039421 73078
Guten Morgen Herr Wrackmeyer,
vielleicht können Ihnen folgende Stellen weiterführende Informationen geben: Das Deutsche Glockenarchiv (wie im Beitrag angegeben Teil des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg) oder das Archiv der Ev. Kirche in Mitteldeutschland in Magdeburg, s. http://www.landeskirchenarchiv-magdeburg.de/
Viel Erfolg
Stefan Flesch