„Wilder Westen im hinteren Hunsrück“: Baumholder in der Nachkriegszeit

„Wilder Westen“ im hinteren Hunsrück. Artikel in DER WEG, Nr. 7, Jg. 1953

Unter diesem reißerischen und kein Klischee scheuenden Titel berichtete die rheinische Kirchenzeitung DER WEG am 29.3.1953 über den Umbruch, den das kleine Hunsrückstädtchen Baumholder seit 1950 mit dem Bezug des großen amerikanischen Truppenübungsplatzes erlebte. Phasenweise bis zu 30.000 Soldaten brachten mit ihrem massiven Zustrom an US-Dollars den örtlichen Wohnungs- und Arbeitsmarkt ins Chaos, ebenso wie die bald 40 (sic!) Nachtbars im Ort die Statistik für Alkohol- und Drogendelikte sowie Prostitution auf bundesdeutsche Spitzenwerte trieben. Im WEG-Artikel geht es folgerichtig im gleichen, bis vor acht Jahren eingeübten Propagandastil weiter:

„Auf dem kleinen Marktplatz stehen die Taxis, in denen verlebte Mädchen sitzen und auf den Besuch farbiger und anderer Soldaten warten, um mit ihnen eine Fahrt im Rücksitz zu unternehmen. Aus Gaststuben, deren Eingänge biedere Wirtshausschilder tragen, tönt schrille Musik und lautes Kauderwelsch. Wir fliehen in das Amtszimmer des Pfarrers, der einen unablässigen, schweren Kampf um seine Gemeinde führt. Alle Einwohner des Dorfes sind bedroht von der Invasion der Soldaten und Arbeiter. Die Fremden bringen viel Geld ins Dorf und zugleich einen gefährlichen Goldrausch.“

Wie ging nun die evangelische Kirche vor Ort und als Landeskirche mit dieser Herausforderung um?

Eine Quelle bilden die Jahresberichte des Superintendenten auf der Kreissynode St. Wendel. In ihnen begegnet das Thema Baumholder prominent, wobei man den Eindruck gewinnt, dass es über die drastischen (und oft auch berechtigten)  Problemanzeigen hinaus nicht gelungen ist, zu praktikablen Lösungsansätzen zu gelangen. Im Bericht von 1959 wird z. B. auf Geschehnisse am 24.12.1958 Bezug genommen:

„Das Presbyterium und der kath. Kirchenvorstand haben in einer gemeinsamen Sitzung eine Eingabe an die amerikanische Armee und das Innenministerium von Rheinland-Pfalz beschlossen wegen der Zustände am Heiligen Abend in Baumholder. Alle Bars hatten geöffnet und betrunkene amerikanische Soldaten grölten auf den Straßen, so dass nicht wenige Gemeindeglieder aus Angst vor Belästigungen nicht zur Christvesper um 23.00 Uhr kamen. Andere sind auf dem Wege hin und zurück belästigt worden. Die an das Innenministerium gerichtete Bitte um eine Novelle zum Gesetz zum Schutze der Sonn- und Feiertage wurde abschlägig beschieden. Ein „christlicher Staat“ hat demnach nicht die Möglichkeit oder besser den Mut, die Heilige Nacht zu schützen vor dem störenden Lärm und den Belästigungen fremder Soldaten, wofür staatenlose, nicht christliche Ausländer verantwortlich zu machen sind, indem sie ihre Bars auch an diesem Abend offenhielten.“

Über die Zustände wurde in der westdeutschen und internationalen Presse breit berichtet, speziell auch die DDR-Medien griffen das Thema gern auf.

Die bereits 1918 in Dortmund gegründete Mitternachtsmission zur „Rettung gefallener Mädchen“ hilft bis heute den Opfern von Zwangsprostitution und Menschenhandel und schuf damals auch in Baumholder eine Anlaufstelle.

Eine Frau mit einem Päckchen bittet um Aufnahme in der Mitternachtsmission. Fotograf: Hans Lachmann Datum: ca. 1964 Ort: Baumholder Signatur: AEKR 8SL046 (Bildarchiv), BRD_1964_1777 Schachtel BRD 39 (69/5583)

1962 erarbeitete der Männerkreis der ev. Kirchengemeinde Baumholder eine Denkschrift, die an Landespolitik, Kommune und Kirche einen praxisorientierten Maßnahmenkatalog einforderte. DER WEG berichtete hierüber in seiner Ausgabe vom 4.11.1962 unter dem Titel „Baumholder – eine große Marketenderei“. Zwei Jahre später fing der Bildjournalist Hans Lachmann einige Eindrücke des damaligen Straßenlebens ein.

Zwei Frauen schauen auf den Eingang des Pa-Pa-Club in Baumholder. Fotograf: Hans Lachmann Datum: ca. 1964 Ort: Baumholder Signatur: AEKR 8SL046 (Bildarchiv), BRD_1964_5028 Negativ (17/5578)
Bar Manhattan auf der Poststraße in Baumholder. Fotograf: Hans Lachmann Datum: ca. 1964 Ort: Baumholder Signatur: AEKR 8SL046 (Bildarchiv), BRD_1964_5027 Negativ (45/5578)

Es war ein quälend langer Prozess, der sich über 15 Jahre erstreckte, bis endlich vor Ort eine soziale bzw. diakonische Betreuungsstruktur sowohl räumlich wie personell etabliert war. Evangelische wie katholische Kirche zeigten sich über viele Jahre ebenso wie die Landes- und Bundespolitik überfordert, ja hilflos. Auf evangelischer Seite engagierten sich die Jugendkammer und das Mädchenwerk der EKiR, das Sozialwerk des Westdeutschen Jungmännerbundes und das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland.

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