Können Sie Steno? Aus der Arbeitspraxis eines Archivars

Stenografierte Notizen von Pfarrer Hans Josten, ca. 1959 (6HA 029)

Stenografierte Notizen von Pfarrer Hans Josten, ca. 1959 (6HA 029)

Unleserliche Handschriften stellen Archivare im Arbeitsalltag häufig vor Probleme.

Worum geht es in dem Schriftstück? Das ist eine wichtige Frage, wenn es um die richtige archivische Einordnung geht. Selbst wenn man ältere Schriften wie die deutsche Kurrentschrift und Sütterlin relativ gut beherrscht, kann man manchmal nur einzelne Wörter entziffern. Am schwierigsten ist es bei Konzepten und Briefentwürfen. Noch schlimmer ist es bei Eigennamen und Unterschriften.  Aber immerhin geben einzelne Wörter eine Orientierung, mit der man sich den Inhalt nach und nach erschließen kann.

„Oh Mann, was für eine Klaue. Ich kann kein einziges Wort entziffern!“ war auch meine erste Reaktion, als mir das abgebildete Schriftstück aus den Handakten des Pfarrers Hans Josten, von 1935 bis 1954 Leiter des Rheinischen Pfarrfrauendienstes, beim Verzeichnen in die Hände fiel. Nach dem Aktenzusammenhang handelt es sich wahrscheinlich um Notizen zur Herausgabe des ersten Heftes der geplanten Vierteljahresschrift „Die Pfarrfrau“ – der Rest der Akte ist glücklicherweise überwiegend maschinengeschrieben. Ich suchte also nach Wörtern wie „Pfarrfrau“ oder  „Dienst“, um einen Anhaltspunkt zu bekommen, aber nichts zu machen! Dass nicht mal auch nur ein Buchstabe zu erkennen war, kam mir schon ungewöhnlich vor. „Ist das überhaupt deutsch?“ fragte meine Kollegin, die ich zur Rate zog. Da es sich offenbar um kein allzu bedeutendes Schriftstück handelte, überging ich es also, aber so richtig Ruhe ließ es mir nicht. Erst nach einigem Überlegen kam ich darauf, dass es sich um eine Kurzschrift handeln könnte. Mir fiel wieder ein, dass meine Großmutter „Steno“ schreiben konnte.  Eine kurze Wikipedia-Recherche später war ich schlauer: Es handelt sich um Deutsche Einheitskurzschrift, eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem unter Akademikern verbreitete Kurzschrift (Stenografie), die aus dem heutigen Büroalltag allerdings völlig verschwunden ist. Zwar bietet Wikipedia einen kurzen Überblick über das komplizierte System der Kurzschrift. Lesen konnte ich das Schriftstück trotzdem nicht.

Glücklicherweise befinden sich im Handaktenbestand von Hans Josten zum Pfarrfrauendienst nur wenige stenografische Aufzeichnungen, so dass der Inhalt auch so gut zu erfassen ist. Es gibt aber auch Bestände, in denen z.B. ganze Predigtserien stenografiert vorliegen. Da wäre es natürlich hilfreich, wenn man die Kurzschrift entziffern könnte.

Haben Sie Erfahrung mit dem Erlernen von Stenografie? Teilen Sie sie uns gerne mit!

6 Gedanken zu „Können Sie Steno? Aus der Arbeitspraxis eines Archivars

  1. Zu beachten ist, dass die Deutsche Einheitskurzschrift in der aktuellen Fassung erst seit der Wiener Urkunde von 1968 besteht. Somit ist es nicht ganz einfach, den Text zu entschlüsseln, da bestimmte Kürzungsregeln, etc. nicht mehr gelten. Ich besuche gerade das Vorseminar zum Fernstudienlehrgang zum staatlich anerkannten Stenografielehrer in Bayreuth und treffe hier einige der führenden Systemkenner. Gerne nehme ich mich der Herausforderung an und versuche den Text zu entschlüsseln – eventuell mit der Hilfe der anderen Experten. Über eine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen.

    Mit freundlichen Grüßen

    Aaron Willems

    • Lieber Herr Willems,
      vielen Dank für Ihre Rückmeldung und dass Angebot, sich des Textes anzunehmen! Es wäre für uns auf jeden Fall hilfreich, jemanden quasi „in der Hinterhand“ zu haben, an den man sich in solchen Fällen wenden kann.
      Ich bekomme den Eindruck, bei der Stenografie gibt es so einige Fallstricke. Ein anderer Leser schrieb mir, dass er zwar Steno gelernt, mit solchen Texten aber trotzdem Probleme hat, weil im Laufe der Zeit jeder Stenograph seinen eigenen Stil entwickelt, der dann auch für andere Könner nicht mehr 100%ig zu entschlüsseln ist. Da Pfarrer Josten damals ja schon recht betagt war, trifft das auf ihn sicher auch zu…
      Ich bin gespannt auf Ihre Rückmeldung!

      Viele Grüße, Ruth Rockel-Boeddrig

  2. Es hat früher zwei komplett unterschiedliche Steno-Systeme gegeben, Stolze-Schrey und Gabelsberger. Es gab zwei Lager, die sich ständig bekriegten. 1924 hat man dann die deutsche Einheitskurzschrift definiert, die Befriedung durch ein drittes System war damals für die Politik ein Topp-Thema und Chefsache für den Reichskanzler. Mein Opa (geboren 1905) hat (gerade noch) Gabelsberger gelernt. Optisch sieht das genauso aus wie die heutige Stenografie, weil die Zeichen mit Kringel, Schleifen usw. weitgehend völlig identisch sind. Aber sie haben jeweils eine komplett andere Bedeutung. Die finale heutige Fassung der Einheitskurzschrift wurde erst 1968 festgelegt. Ich befürchte, dass Menschen, die noch Stolze-Schrey und Gabelsberger können, aussterben. Noch in den 1970er und 80er Jahren hat jeder Realschüler (in Bayern) Einheitskurzschrift gelernt. Ich habe die meisten meiner Mitschriften von Universitätsvorlesungen in Steno mitgeschrieben, andere hatten Tonbänder laufen und es dann zuhause mühsam abgeschrieben. Ich kann von der Seite des Pfarrers überhaupt nichts entziffern, weil ich nur die heutige Kurzschrift gelernt habe. Aber selbst wenn ich es könnte, sieht es ziemlich nach „Sauklaue“ aus. Denn in der Stenografie haben schon kleine Unterschiede gleich andere Bedeutungen (Eck statt Rundung, Höhe über der Grundlinie). Eine schlampige Schrift kann man sich nur leisten, wenn man einen Tag später noch den Text, den man geschrieben hat, noch ungefähr im Kopf hat.

    • Lieber Herr Vieregg,
      vielen Dank für Ihren Beitrag! Ich teile Ihre Einschätzung, dass die hier vorliegende Seite die zusätzliche Schwierigkeit aufweist, dass Pfarrer Josten nicht die sauberste Handschrift hatte. Wozu auch? Wie hätte er wissen können, dass sich kommende Generationen für seine Notizen interessieren würden?!
      Schon in den 1990er Jahren waren Menschen, die stenografische Texte lesen und übertragen konnten, eine wesentliche Hilfe für so manches wissenschaftliche Projekt, so z.B. bei Joachim Conrad: Richard Gölz (1887-1975), 1995. Für diese biografische Dissertation konnte er auf Personen zurückgreifen, die Schriftstücke aus der Gabelsberger Kurzschrift „in unendlicher Geduld“ übertragen konnten. Auch hier teile ich Ihre Einschätzung, dass es in der Zukunft zunehmend schwieriger werden wird, solche Personen zu finden…
      Viele Grüße, Ruth Rockel-Boeddrig

  3. Pingback: April Challenge #Archive30 – Tag 19: Handwriting | blog.archiv.ekir.de

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